Transgenerationales Erbe

Die Last der Kriege in den Generationen danach

(Artikel in Tattva Viveka)

Autor: Marina Stachowiak
Kategorie: Psychologie
Ausgabe Nr: 86

Kriege und autoritäre Erziehung führen zu schweren Traumata bei Kindern und auch Erwachsenen. Diese Traumata werden auch an die Folgegeneration weitergegeben und belasten Menschen psychisch, oft ohne den Zusammenhang zu verstehen. Die neue Disziplin der Epigenetik zeigt, dass diese Traumata auch physisch vererbt werden können. Angesichts der Leiden der Betroffenen ein viel zu wenig beachtetes Problem.

Wir alle haben in unserem Leben etwas erfahren, das uns zutiefst geschmerzt, belastet oder traumatisiert hat. Solche Erlebnisse haben in unserem Bewusstsein eine Art Langzeitwirkung und sie bringen uns im weiteren Leben immer wieder in Resonanz mit selbstähnlichen Begebenheiten. Das einst Erfahrene begleitet unser weiteres Leben, und wir spüren es in seinen ganz unterschiedlichen Auswirkungen, sei es mental, psychisch oder auch in Form von Körpersymptomen und Erkrankungen. Wir werden also immer wieder an nicht bewältigte Erlebnisse und deren Auswirkungen auf unser Leben erinnert. Hierzu gehören neben unseren eigenen auch diejenigen Erfahrungen, die unsere Vorfahren nicht bewältigen konnten und an uns weitervererbt haben.

Dabei gelten die Kriegserfahrungen unserer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern als die schwerwiegendsten. Haben unsere Vorfahren Kriege, Holocaust, Hungersnöte, Flucht und Vertreibung oder Vergewaltigungen erlebt, waren sie in Vernichtungslagern oder Gefängnissen eingesperrt, haben sie Bombardierungen oder Fronteinsätze erlebt oder waren sie sonstigen Gefahren und Entbehrungen ausgesetzt? Konnten sie das Erlebte bewältigen oder sind sie daran zerbrochen? Was haben sie uns an Unbewältigtem weitergegeben?

Der Sozialpsychologe Hartmut Radebold prägte 2005 die Bezeichnung »transgenerationale Weitergabe kriegsbedingter Belastungen«. Darunter ist zu verstehen, dass

die psychischen Folgen verheerender Erfahrungen und Traumata während des Zweiten Weltkrieges und unter dem Hitlerregime an die Folgegenerationen weitergegeben wurden.

Welche Folgen transgenerationale Belastungen für die Betroffenen und ihre Nachfahren mit sich bringen, finden Sie im vollständigen Artikel. Unten können Sie bei Tattva Viveka bestellen!

Der Einzelne ist nichts, das Kollektiv ist alles

Die Kriegskinder

Transgenerationales Erbe

Die Kinder der Kriegskinder wiederum empfanden Scham und Schuldgefühle über die Millionen von Toten – und wollten den Eltern als greifbaren Stellvertretern der Welt von damals in Gesprächen am Küchentisch den Prozess machen. Wollten nach dem Hitlerjungen im Vater, dem BDM-Mädchen in der Mutter bohren. Sie suchten abgestoßen und zugleich fasziniert nach den Spuren der Nazis, nicht nach den Traumata der Eltern.«

Gleichzeitig übernahmen gerade sie die nicht gelösten inneren Konflikte der Eltern und verhielten sich so angepasst wie möglich innerhalb ihrer Familien. Sie machten die Erfahrung, dass es nicht weiterführt, mit den Eltern über ihre Nazizeit zu sprechen. Was die Eltern zu ihrer Verteidigung hervorbrachten, war häufig der Satz: »Es war aber nicht alles schlecht« oder »Was hätten wir denn machen sollen?«. Sie konnten nicht über ihre Gefühle sprechen, geschweige denn sie zeigen.

Seitdem deutlich geworden ist, dass die psychischen Folgen unbewältigter Erfahrungen an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden, setzen sich soziologische, geschichtspsychologische sowie psychoanalytische und therapeutische Untersuchungen mit der unterschiedlichen Art der Weitergabe unbewältigter Erfahrungen auseinander, nehmen sich die unterschiedlichen Sozialisationen der Kriegs- und Nachkriegskinder sowie der Kriegsenkel vor oder befassen sich mit verschiedenen typischen Folgeerscheinungen in den Nachkriegsgenerationen wie sie beispielsweise Natan Kellermann für die Enkel von Holocaust-Überlebenden zusammengestellt hat.

Dies sind Ausschnitte aus dem Artikel.

Erfahren Sie mehr über die die Belastungen unserer Vorfahren, und wie wir lernen können, dieses Erbe aufzulösen.

Lesen Sie die vollständige Fassung in Tattva Viveka 86 oder downloaden Sie diesen Artikel einzeln als ePaper für 2,00 € als ePaper bei Tattva Viveka erhältlich (Pdf, 7 Seiten).


Jean Gebser und der Weg ins integrale Bewusstsein

(Artikel in Tattva Viveka)

Und es will vieles werden

Die Entwicklung der Menschheit

Jean Gebser ist der Begründer der Entwicklungsstufen des kollektiven Bewusstseins. Er unterscheidet fünf Stufen: die archaische, die magische, die mythische, die mentale und die integrale. Das komplexe Werk von Gebser wird hier anschaulich und kongenial zusammengefasst. Die Menschheit ist vorwiegend in der mentalen Stufe, die jedoch schon Verfallserscheinungen zeigt. Es ist nun notwendig, kollektiv in die integrale Stufe einzutreten.

Autor: Marina Stachowiak
Kategorie: Bewusstsein
Ausgabe Nr: 79

Dass wir momentan in einer Zeit des Bewusstseinswandels leben, wird inzwischen von vielen Menschen gesehen.

Allein die großen globalen Probleme wie beispielsweise der Klimawandel, die toxischen Belastungen von Luft, Wasser und Erde reichten aus, um die absolute Dringlichkeit eines notwendenden Wandels zu bekräftigen. Die Chaos- und Zerstörungsprozesse in der Welt häufen sich zusehends und zeugen von jener tiefgehenden Wandlung, die sich vor unseren Augen und auch in unserem Inneren abspielt.

Jean Gebser und der Weg ins integrale Bewusstsein
Jean Gebser

Angesichts der Weltlage stellen sich vorrangig zwei Fragen, nämlich was dazu geführt hat, und wie ein Wandel möglich ist. Auf diese Fragen hat der Bewusstseinsforscher Jean Gebser Antworten gefunden, die uns zu einer ganz neuen Menschen- und Weltsicht führen. In seinem Hauptwerk Ursprung und Gegenwart legt Gebser offen, dass wir uns momentan in einer Umbruchphase befinden, in der sich unsere bislang gegebene Bewusstseinsstruktur erschöpft und sprunghaft in eine neue Struktur mutiert. Er spricht vom heutigen Chaos, der zunehmenden Maßlosigkeit, vom Umgang mit der Natur und der Erde, von der Zunahme technologischer Entwicklung, die mit der Abnahme des menschlichen Verantwortungsbewusstseins einhergeht, sowie von der Vereinzelung oder Vermassung des Individuums und der großen psychischen Not, die überall herrscht, und er sieht alle diese Anzeichen als deutliche Hinweise auf diesen Bewusstseinswandel.

Gebser verfasste sein Werk zwischen 1949 und 1953 und hat das, was gerade weltweit geschieht, bereits vor über einem halben Jahrhundert vorausgesehen. Mit eindrücklichen Beispielen aus den verschiedenen Wissenschaftsbereichen wies Gebser ein Strukturmodell des menschlichen wie menschheitlichen Bewusstseins nach, das gerade heute von aktueller Bedeutung ist.

Der mythische Mensch

Für einen solchen innerlichen Prozess ist die Wahrnehmung der Zeit als Qualität und Intensität, als Umfassendes entscheidend, da sie ihrem Wesen gemäß integraler Natur ist. Denn war das große Thema der mentalen Struktur der Raum, so ist das große Thema der integralen Struktur die Zeit. Dies können wir an der heute so verbreiteten Zeitnot, ja Zeitangst erkennen, von der Gebser sagt, dass sie eine Projektion ist und dass es darum geht, diese Projektion zu erkennen und zurückzunehmen, damit uns die Zeit als eine umfassende und umfangende Qualität bewusst werden kann.

Die Entwicklung der Menschheit

In der integralen Wahrnehmung wird uns mit der äußeren Erscheinungsform, die stets räumlich fixiert ist, auch ihre innere Wesensqualität bewusst, die geistiger Natur ist und folglich mit dem Ganzen verbunden ist. Auf unsere Persönlichkeit, auf unser Ich bezogen, das unsere äußere Erscheinungsform, also ein Bewirktes ist, bedeutet dies, dass wir uns unserem inneren Wesenskern, dem Sich, das ein Bewirkendes ist, und damit geistiger Natur und mit dem Ganzen verbunden, öffnen müssen. Es ist also unsere gegenwärtige Aufgabe, dass wir uns mehr und mehr von unserem Ich distanzieren, das nur vorübergehender Natur ist, und uns dem eigentlichen Kern unseres Daseins öffnen.

Dies sind Ausschnitte aus dem Artikel.

Marina Stachowiak beschreibt in diesem Artikel, die verschiedenen Entwicklungsstufen des Bewusstseins, die von Jean Gebser erfasst wurden, um den Menschen eine Karte der Bewusstseinsprozesse übergeben zu können mit dem Ziel der kollektiver Transformation und Bewusstwerdung..

Die vollständige Fassung lesen Sie in der Tattva Viveka 79. Auch für 2,00 € als ePaper erhältlich (Pdf, 10 Seiten).


Doris Wolf: Es reicht – 5000 Jahre Patriarchat sind genug

Rezension von Marina Stachowiak: Das Patriarchat – die Wurzel allen Übels


Das neuste Buch von Doris Wolf ist – wie bereits schon ihre vorangegangenen – ein aufrüttelndes Buch bezüglich der Aufdeckung patriarchaler Machenschaften in den Wissenschaften, den monotheistischen Religionen, der Verherrlichung von Kriegen, des weltweiten Imperialismus und der Ausbeutung, Unterjochung und Versklavung sowie der Ausrottung ganzer Völker.
Bis heute wird die gängige durch Altertumswissenschaften – wie etwa der Archäologie oder Ägyptologie – vertretene Meinung propagiert, dass es schon immer – seit Menschen existieren – Kriege gegeben hat und dass der Krieg scheinbar von Natur aus zum menschlichen Dasein gehört. Doris Wolf beweist durch viele angeführte Studien und Untersuchungen, dass sich das Neolitikum keineswegs als von der patrizentrischen Wissenschaft propagierte „Jäger- und Sammlerkultur“, sondern als eine friedliche matriarchale Ordnung nachweisen lässt. Eine Ordnung, in der das Leben spendende Mütterliche und Fürsorgliche im Vordergrund menschlichen Zusammenlebens stand und Frauen und Männer in gleicher Weise geachtet wurden. Einhergehend mit der Erfahrung, dass neues Leben von Müttern hervorgebracht wird, ehrten und achteten die Menschen der vorgeschichtlichen Zeit die große Urahnin, die alles Leben hervorgebracht hat und hervorbringt: Mutter Erde (wie wir unseren derzeit sehr gefährdeten Planeten heute immer noch nennen!). Symbole für diese heilige Mutter wurden weltweit gefunden und von der patriarchalischen Wissenschaft als „Pfeile“ gedeutet (vergl: Doris Wolf: Das wunderbare Vermächtnis der Steinzeit).
Auch das patrizentrische Vorurteil gegenüber den steinzeitlichen Kulturen, dass sie unkultiviert und chaotisch waren, widerlegt Wolf. So geht sie etwa auf die schöpferischen Qualitäten ein, die sich vor der patriarchalischen Machtübernahme durch indoeuropäische Horden in jenen matrilinearen Kulturen nachweisen lassen, so etwa in der Keramik oder den Höhlenmalereien. Auch die sensationellen Kenntnisse in der Heilkunde, etwa in der Gynäkologie oder im Verständnis davon, inwiefern bestimmte körperliche Geschehnisse vom Gehirn gesteuert werden, benennt sie und belegt damit einen nicht geahnten Fortschritt in wissenschaftlicher Hinsicht.
Es ist ein Buch, das alle diejenigen interessieren wird, die selbst zu denken und selbst wahrzunehmen bereit sind und sich nicht auf die gegebenen und in der Regel bewusst von „Oben“ gesteuerten Medieninformationen und gewisse „Bestseller“ verlassen möchten. Es ist kein „schönes“ Buch, durchaus nicht! Es ist durch die vielen Informationen und Beispiele, insbesondere bezüglich sexueller Gewalt, beispielsweise der männliche Vorhautbeschneidung, die in den monotheistischen Religionen des Judentums und des Islam bis heute durchgeführt wird und den Genitalverstümmelungen bei Mädchen (die auch heute noch als „Pharaonische Beschneidung“ bezeichnet und immer noch in etlichen Ländern durchgeführt werden) ein insgesamt grausamer Bericht. Diese Verstümmelungen wurden von den patriarchalischen Machthabern, die Ägypten und Mesopotamien vor 5000 Jahren überfielen, eingeführt und haben immer noch Bestand! Menschen – Kinder – die solchen barbarischen Verstümmelungen ausgesetzt werden, haben jegliches Vertrauen zu ihren engsten Mitmenschen, ihren Müttern und Vätern verloren. Nur grausam und unmenschlich! Die psychischen und körperlichen Folgen für die so verstümmelten Mädchen und Jungen bzw. Frauen und Männer sind den meisten Menschen gar nicht bekannt.
Sehr einleuchtend und in meiner eigenen Arbeit mit Menschen immer wieder präsent sind Wolfs Hinweise darauf, wie sich Traumatisierungen durch Krieg, Verstümmelungen und Vergewaltigungen noch nach Generationen als traumatische Folgen im Bewusstsein der Nachkommen aufzeigen lassen. Wolf macht darauf aufmerksam, dass wir die Geschichte der Menschheit in uns tragen, keine Frage, sondern eine Feststellung, die in jedem einzelnen Bewusstsein eines Menschen nachprüfbar und beweisbar ist.
Für Hochsensible empfehlen sich gewisse Pausen bei der Lektüre dieses außerordentlichen Buches. Aber gerade für diese scheint es mir absolut wichtig.

Marina Stachowiak, Institut für integrale Bewusstseinsbildung, Reinheim bei Darmstadt. Autorin von u.a.: Non est deus. Der Narr und das Ich. Über das syphilitische Bewusstsein der Neuzeit (2018) und : temporik-art. Die schöpferische Bewusstseinsgestaltung vor dem Hintergrund der integralen Theorie Jean Gebsers (2017)


Ursula Wirtz: Stirb und werde. Die Wandlungskraft traumatischer Erfahrungen

Rezension vom Marina Stachowiak, 23.11.2018 : Die Spirituelle Dimension

Neben dem bisher Gesagten möchte ich besonders zwei zentrale Gesichtspunkte in diesem genialen und tiefgängigen Buch aufgreifen: Die spirituelle Dimension, die traumatischen Erfahrungen innewohnt (Kap. 3) und jene Ursachen von Gewalt, insbesondere sexueller Gewalt, die auf der Missachtung und Unterdrückung des Weiblichen in unseren Seelen beruht.

In ihren abschließenden Gedanken schreibt Ursula Wirtz, dass sie versucht, einen Paradigmenwechsel in der Traumaforschung vorzustellen, „der auf die Möglichkeit psychospirituellen Wachstums nach traumatischen Erfahrungen verweist und in der Überzeugung wurzelt, dass der Dunkelbereich der prima materia, das »Herz der Finsternis«, auch zu einer schöpferischen Quelle werden kann.“ Das ist ihr auf einfühlsame und tiefgehende Weise gelungen.

Im Hinblick auf Spiritualität distanziert sich Wirtz von institutionalisierter konfessioneller Religion indem sie sich auf „den auf Erfahrung gründenden Kern des Religiösen bezieht“. Denn, so Wirtz: „Spiritualität bedeutet Verbundenheit mit und Beziehung zu einem umfassenden Letztgültigen von höchstem Wert, aber auch zum Mitmenschen und zur Schöpfung als Ganzem.“ (S. 65) Dabei verweist sie auf Carl Gustav Jungs Rotes Buch und seinen Bezug zur Mystik, insbesondere zu Meister Eckhart, und dann schreibt sie diesen wunderbaren Satz: „Vielleicht braucht unsere Zeit etwas mehr Meister Eckhart“. Im Einverständnis mit Jung distanziert sie sich von dem projektiven männlichen Gottesbild, indem sie jenes mystische Verständnis von Spiritualität in den Vordergrund stellt, dass letztlich jeder Religion zugrunde liegt: „Es wird darum gehen, unsere Projektionen auf Gott zurückzunehmen und uns für die Erfahrung eines unergründbaren Seins, mit dem wir verbunden sind und das sich in uns verkörpert, zu öffnen.“ (S. 67)

Die Bewusstwerdung einer spirituellen Wirklichkeit, wie sie in den mystischen Traditionen angestrebt wird, ist aber nur durch die Überwindung des Ich, durch seine Transzendierung möglich, ein Vorgang, der durch eine tiefe Krise führt. Aber gerade diese Krise dient als Sprungbrett zu jenem Anderen, das erst dann erfahren werden kann.

Der Bezug, den Wirtz zur „psychospirituellen Wandlung“ nach einer Traumatisierung nimmt, ist ausgesprochen einleuchtend. Denn in jedem Trauma steckt eine tiefe Sinnkrise, die für den betroffenen Menschen im Hinblick auf seine weitere Entwicklung ausschlaggebend ist. Nimmt er, was ihm geschehen ist als Potenzial zur Wandlung? Da das traumatische Erlebnis einen Menschen augenblicklich aus seinem Ich und damit seinem bisherigen Blickwinkel auf sich selbst und die Welt herausschleudert, wird ein ähnlicher Zustand geschaffen, wie er auch als spirituelle Krise in den mystischen Traditionen beschrieben ist, eine Art Hadesfahrt. „Diese transnarzisstische Erfahrung geschieht bei einer Traumatisierung völlig unfreiwillig und nicht schrittweise wie auf dem spirituellen Übungspfad. Das Ich wird aus den Angeln gehoben und alles, woran vorher geglaubt wurde, alle Überzeugungen über sich selbst, die Welt und Gott, werden in der traumatischen Erfahrung zerschmettert.“ (S. 71)

Insofern können traumatische Erlebnisse als Schwellenerfahrungen „initiatorisch den spirituellen Raum öffnen und ein Erfassen der Wirklichkeit ermöglichen, das die Ich-Perspektive sprengt und den Sinn des Ganzen wahrnimmt.“ (S. 98) Wirtz versteht eine Traumatisierung als „potenziell transformatorischen Prozess“, der zu einer Neuorientierung und Sinngebung führt, in dem Zerstörung und Reifung komplementär sind. (S. 187)

In diesem Zusammenhang hat es mich sehr gefreut, dass Wirtz die Ergebnisse der Systemwissenschaften und der Quantenphysik aufgegriffen hat. Sie machen uns deutlich, dass Entwicklung eben nicht linear und vorausberechenbar verläuft, sondern sich in Sprüngen vollzieht. Und genau das geschieht auch in unserem Inneren, in unserem Bewusstsein. Auch hier gibt es Phasenübergänge, Bifurkationen und chaotische Zustände, die verunsichern, Angst machen, kaum zu ertragen sind und uns aus allem herauskatapultieren. Aber gerade sie sind es, die aus Zuständen der größten Instabilität, die auch gleichzeitig Zustände der größten schöpferischen Freiheit sind – was der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr immer betonte – aus denen plötzlich und nicht vorhersehbar eine ganz neue und höherwertige Ordnungsstruktur entsteht. Hier liegt begründet, wie überhaupt etwas Neues entsteht und dass der Weg in eine höherwertige Struktur immer durch einen emergenten Wandlungsprozess führt.

Wirtz betont, dass für die Analytische Psychologie weniger der wissenschaftliche als vielmehr der mythologische Kontext von Bedeutung ist, weil er nicht auf der mentalen Ebene angesiedelt ist, sondern ebenso wie das Geschehen in der Psyche – oder auch in der Quantenphysik – mehrdeutig und paradox zu verstehen ist. Diesbezüglich verweist sie auf verschiedene Mythen, in denen die paradox-polaren und mehrdeutigen Kräfte des Weiblichen zum Ausdruck kommen, etwa im „geschändeten Weiblichen“ bei Medusa (S. 59) oder in der „transformativen Kraft der Wut“ bei Kali (S. 54).

„Im Kontext männlicher Gewaltherrschaft über das Weibliche symbolisiert der Mythos das Zum-Schweigen-Bringen der als heilig erachteten weiblichen Weisheit, wie sie von der Gorgone Medusa verkörpert wird. Allgemein formuliert geht es um die Vergewaltigung des Weiblichen in einer patriarchalen Kultur.“ (S. 62) Kurz: Auf DEN Punkt gebracht!

Es gälte noch auf vieles hinzuweisen, mit dem sich Wirtz in ihrem Buch auseinandersetzt, etwa auf die Pseudoversöhnung, die heute vielfach praktiziert wird und zu Selbstentfremdung und Fragmentierung, statt zu Integration und Heilung führt (S. 141). Auch die Dialektik von individueller wie kollektiver Opferschaft und Täterschaft, die zu so vielen Missverständnissen und Feindschaften führt, ist ein wesentlicher Hinweis auf eine not-wendende innere Arbeit und ein Hinweis darauf, was es braucht, um ein friedliches Miteinander in der Welt zu gestalten. Hierzu gehört auch das transgenerationale Erbe, das, wenn es uns nicht bewusst wird, sich weiter fortpflanzt und selbstähnliche Gegebenheiten erzeugt, welche wiederum selbstähnliche psychische Strukturen hinterlassen.

Alles in allem ein sehr lesenswertes und obendrein auch noch sehr spannendes Buch, das ich nur empfehlen kann. Ein wichtiges Buch, das entscheidende Wege zum individuellen und kollektiven Frieden aufzeigt.


Doris Wolf: Das wunderbare Vermächtnis der Steinzeit und was daraus geworden ist

Rezension von Marina Stachowiak (29.01.2019): Fundierte und Not-wendige Patriarchatskritik!

Es ist fast unglaublich, wie vehement die Annahme eines matrizentrischen Zeitalters von der herrschenden patriarchalen Wissenschaft zurückgewiesen wird. Mit vielen Zitaten und Beispielen verweist Doris Wolf auf diese Zurückweisungen, die sich jedoch keinesfalls als wissenschaftlich ernst zu nehmende Argumentationen gestalten. Sie zeigen sich hingegen durchgängig als emotional gefärbte und herablassende Abwertungen der Ergebnisse der Matriarchatsforschung und halten vehement an den einmal festgelegten patriarchalen Mustern fest, etwa, dass die Steinzeit eine Zeit der Jäger gewesen sei, obwohl es fundierte Ergebnisse dafür gibt, die dagegen sprechen.

Das Verleugnen und Verschweigen einer unglaublich langen Epoche, die aller Wahrscheinlichkeit nach äußerst naturverbunden und wertschätzend sowie von einer friedlichen menschlichen Gemeinschaft getragen war, zeugt von der Macht patrizentrischer Ideologie, die sich anmaßt, alles besser zu wissen, alles beherrschen und besitzen zu müssen, während alles Andere sowie die weiblichen Werte und insbesondere das weibliche Geschlecht ausgegrenzt und unterdrückt, und wie uns die Geschichte zeigt, ermordet wird.

Während der gesamten patriarchalen Epoche wurde und wird Mutter Erde, wie wir unseren Planeten auch heute immer noch nennen, ausgebeutet und vergewaltigt, während sie in der matrizentrischen Phase geachtet und als Gottheit verehrt wurde. Am Beispiel der weltweit gefundenen Figurinen von Göttinnen, die in der klassischen Archäologie verfälschend als „Venus“ bezeichnet werden, wird greifbar, dass die Frau und Mutter in der Steinzeit als eine das Leben schenkende und mit Nahrung versorgende geehrt wurde. Für den herrschenden Kriegs-, Macht- und Gewaltpatrizentrismus unserer Tage kaum denkbar.

Umso nachvollziehbarer ist die Entstehung brutaler Gewaltherrschaften und Kriege seit der Durchsetzung des Monotheismus, einer Projektion des Mannes in den allmächtigen Vatergott im Himmel bzw. im Jenseits, der keine anderen Götter und erst recht keine Göttinnen neben sich duldet. Im Alten Testament der Bibel kann jedeR nachlesen, was mit den matrizentrischen Kulturen geschah, wie sie überfallen, ermordet und überwältigt wurden (z.B.: 1. Könige, 3. Mose). Dies selbstähnlich zur Ausrottung und Unterdrückung indigener Völker auf der ganzen Welt im Namen des Herrn und ebenso selbstähnlich zur Folterung, Vergewaltigung und Ermordung von Millionen Mädchen und Frauen im ausgehenden Mittelalter und der Neuzeit. In meinem Buch Non est deus. Der Narr und das Ich. Über das syphilitische Bewusstsein der Neuzeit gehe ich auch darauf ein.

Wolf schreibt: „Dass jegliche kriegerischen Hinweise aus der Zeit der Darstellungen nackter Göttinnen fehlen, fällt den entrüsteten WissenschaftlerInnen keineswegs positiv auf; was sie empört sind nicht die Kriege, das obszöne Blutvergießen der relativ kurzen, rund 5000 Jahre dauernden patriarchalen Zeit, sondern die Nacktheit der weiblichen Statuetten, aus der Zeit vor dem Patriarchat, also aus den Jahrhunderttausenden des Friedens, der matriarchalen Zeit der Urgeschichte.“ (S. 84)

Ein weiteres Beispiel dafür, inwiefern der patriarchale Blick fokussiert, ja fixiert und damit eingeengt nur Teilaspekte wahrzunehmen vermag, aber nicht das Ganze.

Ein großartiges Buch, das uns gerade heute so viel zu sagen hat! Doris Wolf gilt mein herzlicher Dank. Besonders gut gefallen hat mir der Heilige Zorn, von dem das Buch getragen, aus dem heraus es möglicherweise sogar geschrieben ist.


Ronald Engert: Der absolute Ort. Philosophie des Subjekts

Rezension von Marina Stachowiak (20.Nov. 2018): Spannende Beiträge zu Philosophie und Spiritualität

In diesem spannenden Buch hat Ronald Engert seine Aufsätze, die in der Zeitschrift Tattva Viveka von 1994 bis 2007 erschienen, veröffentlicht. Die Philosophie des Subjekts ist, so Engert, der rote Faden, der sich durch die Aufsätze zieht. Denn: „Das Subjekt braucht einen absoluten Ort, um sich und seine Relation zu bestimmen. Der absolute Ort ist die feste Position, an der wir uns ausrichten können und von der aus wir fließen können. Dieser Ort ist eine reine Objektivität, von der aus sich das Subjekt konstituiert.“ Mit diesem absoluten Ort ist Gott / Göttin oder das Göttliche gemeint.

Die spirituelle Suche und Sinnfindung unserer Zeit, die von den konfessionellen religiösen Konzepten und Gottesbildern nicht mehr ausreichend getragen ist, führt häufig in Richtungen, in denen das Absolute nicht erkannt werden kann und sich der einzelne Mensch bloß in weiteren Ideologien, fortgesetzter Ichhaftigkeit und Machtmissbrauch verstrickt.

Engerts Philosophie zielt auf die Sinnhaftigkeit, die hinter den vordergründigen ideologischen Konzepten liegt, welche oftmals zu Trennung, Missverständnissen, ja Ausbeutung und Kriegen führen, gerade auch im Hinblick auf die traditionellen monotheistischen Religionen. Engert erläutert die spirituellen Sinnfragen vor dem Hintergrund der Veden, die als älteste Weisheitsliteratur der Menschheit nicht nur die wesentlichen Seinsfragen stellen, sondern auch Antworten darauf finden. Und zwar Antworten, die im Grunde jeder Mystik und Religion zu finden sind, wobei es weniger um eine denkende, als vielmehr um eine intuitive geistige Erkenntnis geht.

Den Beitrag Omnia videns – Zur Sprachtheorie der Kabbala, die von ganz anderen Hintergründen der Sprachen ausgeht als die akademische Sprachwissenschaft, finde ich äußerst interessant. Demnach haben viele Wörter allein aufgrund ihrer Konsonanten eine gemeinsame Wurzel und es gibt so etwas wie eine Ursprache. Hier ist von der genetischen Sprachwissenschaft die Rede, die nach dem Wesen der Laute und Worte schaut. Buchstaben sind nicht einfach nur beliebige Zeichen, die man zusammensetzen muss, um ein Wort zu bilden, sondern sie haben einen tiefer gehenden Sinn.

Auch die Übereinstimmungen der Bhagavad-gita mit Platons Ideen – Platon und die Bhagavad-gita – sind sehr lesenswert und zeugen von einem spirituellen Hintergrund, der letztlich für östliche wie westliche Weisheitslehren steht.

Ungeheuerlich der Beitrag über Viktor Schaubergers Entdeckung der Levitationskraft oder auch der Aufsatz über das Bewusstsein der Maschinen – Gotthard Günther, der Philosoph der Kybernetik – eine grundlegende Untersuchung zur Frage der Reflexion und der Subjektivität – oder die Bemerkungen zum 11. September und dem Terror der westlichen Welt – Eine ideologiekritische Analyse zu den Anschlägen auf das World Trade Center und den Kriegen der USA.

In seinem Beitrag zu Henri Bergsons Kritik des Intellekts, der mir besonders gut gefallen hat, wird über die Zerstückelung der Zeit und des Raumes berichtet, die vom Intellekt ausgeht, jener Instanz, welche die Ich-Struktur des Menschen markiert, aus der aber ein ganzheitliches Wahrnehmen der Wirklichkeit nicht möglich ist, eben weil die intellektuelle und Ich-orientierte Sichtweise nur Ausschnitte wahrzunehmen imstande ist. Erst dann, wenn der zerstückelte Raum und die lineare und ebenfalls zerstückelte Zeit in ihrer Qualität verstanden wird, kommt es zu dem, was Bergson mit der Dauer meint: „Im Tiefsten unserer selbst suchen wir den Punkt, wo wir uns unserem eigenen Leben innerlich nahe fühlen. Es ist die reine Dauer, in welche wir so zurücktauchen.“ (Bergson) Das Gefühl der Dauer ist das „Zusammenfallen unseres Ichs mit sich selbst.“ (Bergson)

So folger Engert: „Ins Innere des Werdens gelangt man nicht mittels des Intellekts oder der Wissenschaft, sondern durch Sympathie. Die reale Zeit ist Zeugung, nicht Länge. Eine neue Philosophie muss an die Erfahrung anknüpfen. Eine Erfahrung, die vom Intellekt gelöst ist und sich in der Zeit entfaltet, nicht zeitlos.“ Und er zitiert Bergson: „…jenseits der verräumlichten Zeit, in der wir fortgesetzte Umlagerungen von Teilen wahrzunehmen meinen, sucht sie einzig die konkrete Dauer, in der sich ein radikales Neuwerden des Ganzen ohne Unterlass vollzieht. Sie folgt dem Wirklichen in all seinen Krümmungen.“

Es bleibt spannend und ich freue mich auf den zweiten Band. Dem Autor und Chefredakteur der Tattva Viveka alles Wahre, Schöne und Gute.


Roland Ropers: Rückkehr zum inneren Universum

Rezension von Marina Stachowiak

In seinem Beitrag Rückkehr zum inneren Universum verweist Roland Ropers auf den Ursprung aller Religionen in unserem Inneren. Das Heil ist nicht im Paradies oder einem wie auch immer gearteten Jenseits in der Zukunft zu finden, sondern in den geistigen Wurzeln unseres Menschseins, in unserem ursprünglichen Seinsgrund, dem unsterblichen Teil unseres Lebens. Angesichts der materialistischen Prägung unserer gegenwärtigen Epoche haben wir uns auf die äußere Realität, auf das bereits Bewirkte, konzentriert und spezialisiert, und uns dabei mehr und mehr von unserer inneren Wirklichkeit entfernt oder gar gänzlich abgeschnitten, die ein Bewirkendes ist. Nicht unser geistiger oder göttlicher Urgrund ist es, an dem wir uns orientieren, sondern unser mit Raum und Zeit identifiziertes vergängliches Ich, das uns zur Identität geworden ist.

Ein Ziel des mystischen Weges ist es, zu erkennen, dass es diese vordergründige Identität des Ich nicht gibt. Wir sind nicht unser Ich. Unter oder hinter unserem Ich liegt unser eigentliches Wesen, unsere wahre Identität, die mit dem Göttlichen verbunden ist. Sie wird uns gewahr, wenn wir in der Raum- und Zeitfreiheit präsent sind. „Mystik ist ein Weg in die Erfahrung einer non-dualen Wirklichkeit und damit in eine große Freiheit“, so Ropers.

Ropers spricht von den tieferen Dimensionen der Spiritualität im Urgrund der Menschen, die über die religiösen Konfessionen erhaben sind. In ihnen verläuft ein dynamischer und harmonischer Prozess, der alle konfessionellen Unterschiede auflöst und letztlich unser aller großes Friedenspotenzial in der Welt bedeutet. Aus diesem Urgrund heraus ist noch kein Krieg geführt, kein Verbrechen verübt worden, wohl aber im Namen verschiedener religiöser Konfessionen.

Gott, sei es der jüdische, der christliche, der muslimische oder welcher Konfession er auch immer angehören mag, ist lediglich eine menschliche Vorstellung, ein Bild, eine Projektion des menschlichen Ich, die aufgegeben werden muss, denn unser innerstes Universum, unser innerster Wesenskern, ist nicht als mythologische Bilderwelt und auch nicht als gedachte abstrakte Welt wahrnehmbar. Er ist vielmehr durch eine wache, absichtsfreie geistige Präsenz erfahrbar, die sich uns als unmittelbare Wahrnehmung von Gegenwart erschließt.

Der Mensch als geistiges Wesen soll das Göttliche deshalb nicht in einem Jenseits suchen, sondern ganz konkret in seiner irdischen diesseitigen Existenz. Es soll ihm in allem, was ist präsent werden. Dazu ist es notwendig, dass er die Dualismen auflöst und sich eine wertfreie Sicht auf das Ganze erschließt, in der Körper, Seele und Geist integriert sind und ein Ganzes bilden, das mit der Ganzheit des Universums verbunden ist.

Im Grunde sind wir alle heilig, ganz, nur dass es uns zunächst nicht bewusst ist. Hier ist der einzelne Mensch in seiner Selbstverantwortung gefordert, seinen Weg in sein innerstes Heiligtum zu finden. „Der Weg dorthin führt über die Bewusstwerdung des Seins, der kosmischen Wirklichkeit“, so Ropers. Dass dies nicht nur auf eine dringend gebotene Weiterentwicklung im christlichen Heilsverständnis verweist, sondern auch im Einklang mit östlichen Weisheitstraditionen und mystischen Traditionen der abendländischen Geschichte steht, darauf verweist Ropers immer wieder, indem er zahlreiche Mystiker und Weise zitiert, deren Essenz stets das allumfassende Mysterium ist, in das sich der Mensch integrieren soll.

Die Beiträge von Helga Simon-Wagenbach, Christiane May-Ropers, Christina Kessler und Dorothea J. May geben uns praktische Hinweise und Anleitungen, wie wir den mystischen Weg in unseren Alltag integrieren können und legen dar, dass er keinesfalls ungewöhnlich oder besonders schwer gangbar ist, wie viele denken. Spirituelle Erfahrungen sollen gerade heute jedem Menschen offen stehen, denn sie öffnen auch die inneren Sinne, mit denen wir uns selbst besser wahr-nehmen, aber auch andere Menschen tiefer verstehen können.

Helga Simon-Wagenbach gibt in ihrem Beitrag Zukunft beginnt jetzt – Mystik ist der Weg hierfür praktische und einfach nachvollziehbare Beispiele aus dem Yoga, wobei der Atem die wesentlichen Verbindungen zwischen Körper, Psyche und denkendem Geist darstellt.

Christiane May-Ropers´ Aufmerksamkeit gilt ganz der Bewegung im Gleichgewicht als der Urkraft des Lebendigen. In ihrem Beitrag Der Klang unseres Körpers erklärt sie die Bedeutung von Nowo Balance, einer sehr einfühlsamen und ganzheitlichen Bewegungstherapie, bei der die Schwingungen in Körper, Psyche und Geist in die Aufmerksamkeit genommen werden. Diese werden nach dem Resonanzprinzip auch gezielt zur Heilung eingesetzt, eine Maßnahme, die auch auf die Emotionen verändernd bzw. heilend wirkt, da auch sie in ganz bestimmten Frequenzen schwingen.

Christina Kessler hat in ihren langjährigen Studien zum Kulturvergleich eine universale Metastruktur entdeckt, die sie in ihrem Beitrag Mystik in den Alltag bringen. Entmystifizierte Mystik den Universellen Prozess nennt. „Der universelle Prozess führt zur Einsicht in die inneren Zusammenhänge der Wirklichkeit und daher zu außerordentlicher Entscheidungs- und Handlungskompetenz. Von anthropologischer Seite kann er einen Beitrag zum Durchbruch in ein neues Paradigma leisten – in ein Paradigma des Lebendigen, ein Paradigma der kreativen Kooperation“, so Kessler. Dabei beschreibt sie das Paradigma der westlichen Zivilisation als patriarchalisches Wertesystem, das auf dem rationalen Denken beruht, welches trennend und nicht kokreativ ist und den Menschen in der äußeren materiellen Welt belässt, statt ihm Zugang zum Weltinnenraum, wie Rilke ihn nannte, zu ermöglichen. Hierzu braucht es eine Mystik, die von allen Menschen gelebt werden kann, eine Herzensbildung, um sich mit dem Universellen Lebensprozess zu verbinden. Aus diesem Grund ist es entscheidend, das Ego zu überwinden, damit sich unser innerer Wesenskern, der gleichzeitig Wesensgrund der Menschheit wie des Universums ist, mit dem Ganzen verbinden kann. Mit ihren zehn Spielregeln gibt uns Kessler einen Leitfaden mit auf den Weg, der uns hilft die Struktur des Universellen Prozesses im Alltag umzusetzen.

Der Beitrag In einem Meer von Liebe von Dorothea J. May rundet dieses schöne und angenehm zu lesende Buch schließlich ab. Auch sie bedauert, dass wir immer noch vorwiegend im alten mechanistischen Weltverständnis verhaftet sind und die erkenntnistheoretischen Konsequenzen der Quantenphysik selbst nach hundert Jahren nach wie vor nicht integriert haben.


Nadja Murad: Ich bin eure Stimme

Rezension von Marina Stachowiak (23.10.2018): Ihre Stimme wurde gehört!

Die brutalen Exzesse der Neuzeit gegen alles Andersartige und insbesondere gegen die von der Katholischen Kirche verteufelte Sexualität und das Weibliche bzw. gegen Mädchen und Frauen wiederholen sich bis heute in den kriegerischen Auseinandersetzungen in der ganzen Welt auf selbstähnliche Weise, insbesondere die sexuellen Gewalttaten an Mädchen und Frauen etwa in der arabischen Welt und in weiten Teilen Afrikas. Dabei steht heute wie damals eine Ideologie im Vordergrund, die mit äußerster Macht und Grausamkeit durchgesetzt werden soll. Die „heiligen“ Schriften werden dazu wie gehabt nach patriarchalen Interessen ausgelegt und gedeutet.

Die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Jesidin Nadia Murad hat mich deshalb zutiefst berührt. Sie ist eine Überlebende der unglaublichen vor allem sexuellen Gewalt, die Mädchen und Frauen durch den Islamischen Staat erfahren haben und erfahren. Diese 25-jährige äußerst mutige Frau setzt sich als UN-Sonderbotschafterin für jesidische Mädchen und Frauen ein und leiht ihnen ihre Stimme. Sie ist gehört worden! Dass das geschehen konnte, ist ein gutes Zeichen, weil es uns zeigt, dass Veränderung möglich ist.

Murad beschreibt detailliert die brutale Vorgehensweise der Terrormiliz, die durch Fanatismus und Arroganz und den Einsatz von Gewalt, alle, die sich ihrer Ideologie nicht unterordnen oder widersetzen bestraft oder tötet. In Murads Schilderungen wird auch sehr deutlich, was in den Seelen der Opfer geschieht und wie lange es dauert, bis Frauen, die so etwas erlebt und überlebt haben, wieder fähig sind ein halbwegs normales Leben zu führen, wenn das überhaupt geht. Ich bin Nadia Murad sehr dankbar für ihren Mut, ihren Einsatz und nicht zuletzt für ihr unglaubliches Durchstehen dessen, was sie in ihrem Buch schildert. Eine große Frau, die den Friedensnobelpreis absolut verdient hat.


Kristin Helberg: Der Syrienkrieg. Lösung eines Weltkonflikts

Rezension von Marina Stachowiak (30.10.2018): Selbstähnliche Wiederholung patriarchaler Macht- und Gewaltpolitik

Kristin Helberg analysiert die äußerst komplexen Hintergründe des Syrien-Krieges, den sie letztlich als Weltkonflikt versteht und als „symptomatisch für eine neue Welt-Unordnung“ sieht: „Die Welt ist durcheinandergeraten, und wir haben noch nicht die Mittel gefunden, sie neu zu sortieren. Der Syrien-Krieg ist der erste Konflikt, der diese Tatsache schonungslos offenbart. Er ist das Symptom einer neuen Weltordnung.“

Denn was in Syrien geschieht, geschieht tendenziell weltweit, wobei vor allem nationale Interessen im Vordergrund stehen und internationale Vereinbarungen und Regelungen nicht mehr greifen. „Was in Syrien passiert, ist das Ergebnis eines Totalversagens der internationalen Gemeinschaft – ihrer Institutionen, Regierungen und Gesellschaften.“ Oder an anderer Stelle: „Der Syrien-Krieg hat internationale Strukturen geschwächt. Da bisherige Regeln, Institutionen und Mechanismen in Syrien nichts bewirkt haben, ist der Glaube an dieses Ordnungssystem und an eine multinationale Zusammenarbeit generell erschüttert. Welcher Machthaber fühlt sich heute noch der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verpflichtet, den UN-Konventionen gegen Folter, Verschwindenlassen und Völkermord? Selbst die Genfer Konventionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg Regeln für den Krieg aufstellte und von allen Staaten anerkannt wird, ist zum Treppenwitz der Geschichte verkommen. Verletzte, Krankenhäuser und medizinisches Personal müssen von den Kriegsparteien geschützt werden? Zivilisten und zivile Objekte dürfen nicht angegriffen werden? Schön wäre es. Nachdem genau diese Völkerrechtsbrüche in Syrien alltäglich geworden sind, werden sie sich andernorts wiederholen.“

Helberg nennt Täter und Opfer beim Namen und macht deutlich, mit welcher Gewalt das Assad-Regime gegen seine Kritiker und Gegner vorgegangen ist und noch vorgeht und wie viel Leid dabei erzeugt wurde. Städte wurden zerstört, Menschen verfolgt, gefoltert, vergewaltigt, ermordet. Schwer traumatisiert oder vom Regime verfolgt mussten viele Syrer flüchten, um zu überleben und die internationalen Institutionen haben nicht wirklich Einfluss auf eine Beendigung des Krieges genommen bzw. auf die Auflösung des Assad-Regimes hinwirken können.

Anders als beispielsweise im Vietnam-Krieg hat es hinsichtlich des Syrien-Krieges weltweit wenig Proteste gegeben, was vor allem zulasten der immer oberflächlicher werdenden und wenig objektiven, dafür aber manipulativen Presseberichte geht. Wie kann es sein, dass die Welt nicht aufschreit ob einer solchen brutalen Gewalt und Unterdrückung, ob der religiösen Fanatismen und der hinter allen äußeren Erscheinungen dieses entsetzlichen Krieges steckenden Wirtschafts- und Machtinteressen?

Wenn der Fall Syrien symptomatisch für die momentan gegebene Weltordnung bzw. -Unordnung ist, weist dies darauf hin, dass es so nicht weitergehen darf.

Im letzten Kapitel ihres Buches nennt Helberg sieben wesentliche Kriterien für den Umgang mit Syrien, indem die Staaten eben keine Geschäfte mit Syrien mehr betreiben, den Machthaber ächten bzw. die Kriegsverbrecher strafrechtlich verfolgen, ziviles Engagement fördern und den verfolgten Syrern humanitäre Hilfe zukommen lassen bzw. Geflüchtete im eigenen Land integrieren und ihnen beistehen. Besonders gut hat mir die diplomatische Empfehlung Helbergs gefallen, indem statt auf Verteidigung und Vernichtung auf Ausgleich und Entspannung gesetzt wird: „Die egoistisch und nationalistisch agierenden Machthaber der Region davon überzeugen, dass eine Annäherung an jahrzehntealte Erzfeinde im eigenen Interesse ist – darin besteht die eigentliche diplomatische Herkulesaufgabe zur Beilegung des Syrien-Kriegs. Tel Aviv, Teheran, Riad und Ankara müssen erkennen, dass die Kriege im Jemen, in Syrien und gegen die PKK und ihre Ableger sowie Aufrüstung und Atomprogramme viel Geld verschlingen, das man für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes oder die Versorgung der Bevölkerung besser einsetzen könnte. Und dass sich dies innerpolitisch lohnt.“

Ein sehr lesenswertes Buch für diejenigen, die sich auch über die komplexen Hintergründe informieren möchten.


Joachim Ernst Berendt: Das dritte Ohr. Vom Hören der Welt.

Rezension von Marina Stachowiak: Vom Klang der kosmischen Harmonie

Berendts außerordentliches Buch über das Hören ist sehr persönlich inspiriert. Es werden zwar eine Reihe von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Studien aufgeführt, aber wir haben es nicht mit einem wissenschaftlichen Buch zu tun, was Berendt ausdrücklich betont. Hingegen lesen wir ein sehr spannendes, inspirierendes und mit vielen Beispielen und Analogien angereichertes Buch über eine Sinnestätigkeit, der wir ständig ausgesetzt sind, die wir aber in unserer rationalen, patriarchalen Welt, in der wir die Dinge fokussieren und damit vereinzeln, kaum wertschätzen. Für uns steht das Sehen im Vordergrund, eine Sinnestätigkeit, die nicht wie das Hören nach innen, sondern nach außen gerichtet ist. Mit dieser Richtungsbetonung erklärt Berendt die Yin- bzw. Yangbetontheit der beiden Sinnestätigkeiten des Hörens bzw. des Sehens.

Besonders erfreut war ich, in Berendt einen Gebser-Kenner zu entdecken. Er erwähnt den Kulturphilosophen und Bewusstseinsforscher Jean Gebser mehrfach und die Schlussfolgerungen, die Berendt insbesondere im Hinblick auf ein sich anbahnendes neues Bewusstsein zieht, sind an Gebsers Werk orientiert. Diesbezüglich spricht Berendt auch von defizienten Zeichen, die darauf hinweisen, dass sich unser auf das Außen der Dinge bezogene rationale und männlich dominante Bewusstsein allmählich einem intensiveren Bewusstsein öffnet, welches den weiblichen Aspekten des Daseins nicht mehr feindlich gegenüber steht und sich dem Inneren zuwendet. So spricht er etwa vom „Lärm als hörbarem Müll“ (S. 148) und davon, dass der „sehende Mensch“ diesen Lärm macht, der „verliebt in Explosionen“ ist (S. 160). „Der Mensch des 20. Jahrhunderts ist in neurotischer Weise auf Explosionen fixiert. Neurosen schlagen in Aggressivität um. Aggressivität will Waffen. Nicht zufällig kulminiert diese Fixierung in der Atombombe, die doch anders denn als Fixierung gar nicht erklärbar ist. Die Aggressivität der Atombombe ist die des optisch hypertrophen – sich ständig über sich selbst und die Welt täuschenden Menschen.“ (S. 161)

Mit dem Öffnen bzw. sich öffnen nach innen, mit dem Hören und Zuhören, können wir uns den inneren Wesenskräften und dem Weiblichen in uns wieder öffnen, so dass die seit Jahrhunderten unterdrückten polaren Kräfte in unseren Seelen heute eine neue Chance haben und uns damit in ein ganzheitlich wahrnehmendes und intensiveres Bewusstsein führen, welches Jean Gebser als das integrale Bewusstsein bezeichnete.

Mit einer Fülle an interessanten Beispielen aus den verschiedensten Bereichen, etwa der Quantenphysik, der Architektur, den Proportionen in der Natur, die sich in harmonikalen Intervallen ergänzen, verweist Berendt immer wieder auf den Klang, jene kosmische Harmonie, die in allem widergespiegelt ist. Ein sehr anregendes, spannendes, leicht zu lesendes und empfehlenswertes Buch.


Jan Ilhan Kizilhan: Nachtfahrt der Seele. Von einem, der auszog das Licht zu suchen.

Rezension von Marina Stachowiak

Mit diesem Buch leistet Jan Ilhan Kizilhan mit Alexandra Cavelius einen wichtigen Beitrag in Bezug auf den Terror des IS. Seinen Schreckenstaten und massiven Gewaltakten in Form von Exekutionen, Folterungen und Vergewaltigungen fallen unzählige Menschen zum Opfer oder fliehen davor. Kizilhan nennt die Foltermethoden beim Namen, beschreibt Traumatisierte, sucht als Psychologe nach geeigneten Methoden, den Betroffenen zu helfen, denn der „innere Folterknecht“ beeinflusst die Überlebenden noch lange. In der Therapie geht es darum, die Betroffenen von diesem inneren Folterer zu befreien und sie wieder ins Leben zurück zu holen. Denn gefolterte und mehrfach vergewaltigte Menschen sind weder tot noch lebendig. „Vergewaltigung ist eine Attacke auf unser intimstes Selbst, auf die Würde eines Individuums, das seinen eigenen Körper nicht mehr kontrollieren darf. Das gewalttätige Eindringen in das Innerste eines Menschen nutzen die Täter nicht allein zur Befriedigung ihrer sexuellen Lust; sie wollen Herrschaft über ihr Opfer erlangen, es bezwingen und seine Psyche brechen.“

In seiner Arbeit mit traumatisierten Opfern erleidet Kizilhan im Jahr 2010 ein burnout und macht sich auf die Suche nach seinen eigenen Wurzeln. Er beschreibt den Hintergrund seiner Familie, die als jesidische Kurden in ärmlichen ländlichen Verhältnissen in einem Dorf in Kurdistan im Osten der Türkei in der Nähe der syrisch-irakischen Grenze leben. Seine Eltern gehen nach Deutschland und holen ihre Kinder dann zu sich. Kizilhan ist sechs, als er nach Deutschland kommt. Seine Beschreibungen der ersten Jahre in Deutschland, seine Eindrücke von dem fremden Land und den Menschen haben mich sehr beeindruckt. Ich finde es bewundernswert, wenn Menschen aus einem anderen Land, mit einem anderen kulturellen Hintergrund, einer anderen Sprache und / oder Schrift in einem völlig anderen Land sich zuhause fühlen können. Aber es ist immer wichtig, sich nicht ganz abzutrennen von der eigenen Kultur. Deshalb ist es auch Kizilhan wichtig, sich seiner kulturellen Wurzeln bewusst zu sein.

Vor dem Hintergrund der jesidischen Geschichte, wie Kizilhan sie im Buch beschreibt, wird zudem deutlich, dass die Verfolgungen und die Genozide die das jesidische Volk bis heute erfährt, eine sehr lange Geschichte haben. So schreibt Kizilhan: „Unsere inneren Bilder sind wie tanzende Energien durch die unsichtbaren Fäden eines Netzes mit den Erinnerungen anderer verbunden. Vergangenheit und Gegenwart gehen ineinander über.“

Mit seiner transkulturellen Traumatologie arbeitet Kizilhan seit vielen Jahren mit kriegstraumatisierten Menschen, vor allem mit jesidischen Mädchen und Frauen. Angesichts der traumatischen Folgen, die er sehen und verkraften muss liegt sein Fokus auf der Beendigung des Terrors und der Kriege und er spricht sich für eine Verständigung miteinander aus. Im Hinblick auf die Vergangenheit, die in jedem Menschen präsent ist und seine Gegenwart und Zukunft prägt, im Hinblick also auf unser transgenerationales Erbe schreibt er: „Krieg kostet nicht nur Menschenleben, sondern verwundet auch die Seele unserer noch ungeborenen Kinder und Kindeskinder. Die aus der Angst geborene Radikalität und das Gift von Ideologien spalten die Beziehung zu unserem inneren Selbst und zu den anderen Menschen.“

Schließlich stellt er auch die heute geradezu hochaktuelle Frage, was mit traumatisierten Gesellschaften geschieht: „Und was geschieht mit traumatisierten Gesellschaften wie der der Jesiden nach dem letzten Völkermord? Oder auch der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg? Haben sie ihre kollektiven Traumata wirklich verarbeitet, oder reicht schon ein leichter Anstoß aus der einen oder anderen Richtung aus, um die bösen Geister der Angst wieder zum Leben zu erwecken?“

Dass wir in Deutschland die kollektiven Traumata längst nicht verarbeitet und überwunden haben, zeigt sich in meiner Arbeit mit Menschen ständig. Die meisten persönlichen Probleme und Konflikte, ja Krankheiten, die Menschen haben, können auf die Weltkriege zurückgeführt werden. Entlastung tritt dann ein, wenn der Krieg im eigenen Bewusstsein beendet ist. Entlastung tritt dann ein, wenn Kinder geliebt, aufgehoben und gewertschätzt werden. Dazu braucht es Eltern, die innerlich frei sind von ihren eigenen Traumatisierungen und ihrem transgenerationalen Erbe und wirklich verantwortungsvoll und friedfertig sein können. Wer wirklich friedfertig in seinem Inneren ist, braucht sich vor dem „Gift von Ideologien“ nicht zu fürchten.


Hanspeter Oschwald: Auf der Flucht vor dem Kaplan

Rezension von Marina Stachowiak: Die katholische Kirche ist nicht christlich

Hanspeter Oschwald schreibt über den Machtmissbrauch der Katholischen Kirche und die dadurch entstandenen Ängste und Traumata bei den Gläubigen, vor allem den Kindern und Jugendlichen der ersten Nachkriegsjahrzehnte. Er stellt die Frage: „Wie katholisch sind wir aber trotz allem noch? Ich kann für mich nur darauf antworten: »Mehr, als mir lieb ist.« Die jugendliche Prägung wirkt nach, und manche Skandale, die wir heute erleben, wären für uns wegen unserer katholischen Sozialisierung unvorstellbar gewesen. Die Werte sind geblieben, doch die hätten wir auch ohne Kirchenbindung bekommen können, und zwar dann sogar ohne Neurosen.“

Er kommt zu dem Schluss: „Der Mangel an Menschenrechten und Demokratie gehört zu den schlimmsten Mängeln im katholischen System.“

Auch auf die lange Blutspur der Inquisition, auf die sexuelle Gewalt, die in kirchlichen Einrichtungen herrscht, auf die Borniertheit der katholischen Autoritäten und auf die Heuchelei kommt Oschwald zu sprechen und stellt fest, dass eine katholische Prägung zwangsläufig zur Intolleranz führt: „Wer überzeugt ist, die Wahrheit zu besitzen, wird sich nie einem Dialog öffnen, er kann es einfach nicht. Jede Kritik an der Kirche wird dann schnell als Hass ausgelegt. Noch mehr als die Institution Kirche treibt die Borniertheit ihrer selbst ernannten Glaubenswächter jedem nachdenklichen Menschen den Glauben aus.“

Man wundert sich, dass eine solch autoritäre und menschenverachtende Institution bis heute Bestand hat, insbesondere auch ob der in den letzten Jahren weltweit aufgedeckten Fälle von sexueller Gewalt hinter ihren Mauern und deren jahrelanger Vertuschung.

Die gesamte Kirchengeschichte bis zu ihren Anfängen ist ein patriarchalisches Macht- und Gewaltkonstrukt, das vor dem Hintergrund mythisch zusammengebastelter Dogmen unglaublich wenig mit der Botschaft des Jesus von Nazareth zu tun hat.

Ein Buch zum Nachdenken!


Doris Wagner: Nicht mehr ich. Die wahre Geschichte einer jungen Ordensfrau

Rezension von Marina Stachowiak: Dissoziation durch Ideologie

Doris Wagners Beitrag ist eine erschütternde Ergänzung zu den in den letzten Jahren bekannt gewordenen sexuellen Gewalthandlungen innerhalb kirchlicher Institutionen. Dass die zahlreichen Orden und Gemeinschaften der Katholischen Kirche auch heute noch Anhängerinnen und Anhänger finden, ist schon bemerkenswert angesichts der kirchlichen Macht- und Gewalthierarchie, die bis hinauf zum „Heiligen Vater“ geht und – darüber hinaus zu einem „Vater im Himmel“, der nichts weiter ist als eine Projektion des patriarchalen Mannes. Das ist leicht daran ablesbar, dass in seinem Namen die Kirche stets abgesegnet hat, was ihrem Macht- und Geltungsbereich Nutzen brachte, angefangen von der Ausrottung matrizentrischer Kulturen in Kanaan, in denen Mutter Erde noch geheiligt wurde (1. Könige 18, 22, 40; 1. Könige 19, 1-18; 5. Mose 17, 2-6; 2. Mose 22, 17; 3. Mose 20, 6 und 17), der Übernahme der alttestamentlichen Erbsünde Evas, die als Legitimität genutzt wurde, um Frauen zum Schweigen zu bringen (Paulus in 1. Kor. 14) und sie aufgrund ihrer sexuellen Attraktivität für Männer zu verteufeln, auf das Entsetzlichste zu foltern – insbesondere durch Vergewaltigungen – und hinzurichten, bis hin zur Absegnung von Kriegen bis in unsere Tage. Nicht die Liebesbotschaft eines Jesus von Nazareth durchzieht die lange Geschichte der „christlichen“ Kirche, sondern eine unglaubliche Arroganz, Fanatismus und der Einsatz von Gewalt.

Auch den alttestamentlichen Unterwerfungsgrundsatz übernimmt die christliche Kirche. So ist etwa im ersten Brief des Petrus (2, 18, 19) zu lesen: „Ihr Knechte, seid Untertan mit aller Furcht den Herren, nicht allein den gütigen und gelinden, sondern auch den wunderlichen. Denn das ist Gnade, wenn jemand vor Gott um des Gewissens willen das Übel erträgt und leidet das Unrecht.“

Genau das ist Doris Wagner geschehen. Sie ist eine mutige Frau, weil sie ihre persönlichen Erfahrungen an die Öffentlichkeit bringt und andere sich durch ihren Bericht einen Eindruck davon verschaffen können, was immer noch – 2018 Jahre nach Jesus von Nazareth – gepredigt wird, was immer noch anderen an Gewalt angetan wird und was immer noch unter dem schon so alten Teppich der Versuchung lauert. Sehr empfehlenswertes Buch. Ich wünsche Doris Wagner, dass sie ihre Erlebnisse irgendwann über-Wunden haben darf.


Bede Griffiths, Roland Ropers: Eine Welt, eine Menschheit, eine Religion. Auf dem Weg ins innere Universum

Rezension von Marina Stachowiak

Roland Ropers nennt ihn den prophetischen Menschen, Mönch und Mystiker des 20. Jahrhunderts: Dom Bede Griffiths. „Der englische Benediktinermönch Bede Griffiths (1906 – 1993) war einer der großen Mystiker und Weisen des 20. Jahrhunderts, der prophetisch die Versöhnung der Weltreligionen vorangetrieben und authentisch gelebt hat“, so Ropers in seiner Einführung ins Buch.
Was Bede Griffiths in Teil I über den Kern der verschiedenen Religionen des Westens wie des Ostens schreibt, zeugt von seiner profunden Kenntnis der verschiedenen religiösen und philosophischen Strömungen. Er beschreibt die Unterschiede der äußeren Religionen zur jeweiligen mystischen Tradition, zur inneren Religion. Die äußere Religion ist für Griffiths gekennzeichnet durch den Dualismus, der sich in einer grundsätzlichen Trennung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Gut und Böse, Wahrheit und Irrtum, richtig oder falsch, männlich oder weiblich und vor allem zwischen Gott und dem Menschen zeigt. Dieser Dualismus verhindert es, dass wir die Konflikte und Unterschiede in den verschiedenen religiösen Auffassungen lösen können, denn jede äußere Religion hält die eigene Auffassung über Gott und Mensch, über richtig und falsch usw. für die einzig wahre – ein Grund, weswegen beispielsweise die christliche Mystik von Seiten der Kirche zu keiner Zeit erwünscht war.
Schaut man aber die mystischen Traditionen der verschiedenen Religionen, wird deutlich, dass sie im Kern auf das Eine hinauslaufen, dass sie in ihrem Inneren ein Ganzes sind. So schreibt Griffiths: „Nur innerhalb der mystischen Tradition jeder Religion können wir über die Gegensätze hinauskommen, ohne diese dabei zu verwischen oder zum Grund für die Trennung zu machen. Es geht darum, das Geheimnis der transzendenten nicht-dualistischen Wirklichkeit zu erfassen, denn nur in diesem lässt sich die Antwort auf alle Fragen der Menschen finden.“
Insbesondere bezüglich der weltweiten Konflikte unserer gegenwärtigen Zeit sieht Griffiths die universelle Weisheit, die Ewige Philosophie als den alle Menschen und Religionen verbindenden tragenden Grund. Er erinnert an die Sprache der Mythen, die aus einem imaginativen Bildbewusstsein heraus nicht einfach bloß abstrahieren wie unser rationales wissenschaftliches und vereinzelndes Denken, sondern auch unsere Sinne, unsere Empfindungen und das Schöpferische in uns ansprechen. Ein Mythos ist nie geradlinig und einfach zu deuten, er spricht in den großen Rätseln aus der Tiefe des menschlichen Bewusstseins, ist stets mehrdeutig und verweist letztlich auf das Ursprüngliche.
Dagegen sieht Griffiths das westliche Denken, das den technischen Fortschritt gebracht hat und die Materie bis in die kleinsten Teilchen „bei der Erforschung der äußersten Grenzen von Zeit und Raum“ analysiert hat, im Zusammenhang der Verschmutzung unserer Erde, der Ausbeutung ihrer Ressourcen und der vielfältigen Störungen und Zerstörungen, die sich dadurch ereigneten und weiterhin ereignen. „All dies ist die Folge einer Philosophie, die die Erkenntnis und Beherrschung der materiellen Welt zum Ziel hatte. Die westliche Welt muss heute eine Metanoia vollziehen, eine Umkehr des Geistes, die es ihr ermöglicht, die alte Weisheit, die ewige Philosophie, auf der die menschliche Natur in Wirklichkeit beruht, wieder zu entdecken.“
Die Erkenntnis, dass sich das rationale Denken und die Entwicklung der Wissenschaften unter der Prämisse entwickelt haben, es gebe eine materielle Welt außerhalb des Geistes stellt Griffiths deshalb in Frage und er verweist in diesem Zusammenhang auf die Quantenphysik, die eine andere Wirklichkeit bekundet. Und dann schreibt er diesen wunderbaren Satz über den Tau Te King des Lao Tse: „Tao ist der „Rhythmus“ des Universums, der „Strom“ der Realität, ähnlich dem „ewig lebenden Feuer“ des Heraklit oder den Energiefeldern der modernen Physik. Sein Wesen ist die Einheit der Gegensätze, des Yin und des Yang, des Passiven und Aktiven, des Weiblichen und Männlichen. Daraus entwickelt sich in der chinesischen Philosophie ein tiefer Sinn für die Komplementarität aller Existenz.“
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, das Griffiths darauf hinweist, dass mit dem Tao die Mutter gemeint ist, weil das Tao der Grund, die Wurzel und das Empfangende bedeutet. In der patriachalen Welt, die zu so viel Unheil und Ungleichgewicht, auch zu so viel sexueller Gewalt gegen das Weiblich fähig war und ist – sei es gegen die Frauen, sei es gegenüber Mutter Erde – weil der Dualismus diese strenge Teilung und damit auch die Wesenskräfte in den Seelen der Menschen durcheinander gebracht hat, schreibt Griffiths: „Es ist bedeutsam, dass Tao die „Mutter“ genannt wird. Denn wir sind in einer patriarchalischen Kultur aufgewachsen, und unsere Vorstellungen von Gott, der höchsten Realität, sind alle maskulin. Das Volk der Hebräer, von dem die westliche Welt ihre Religion übernahm, gehörte ebenfalls einer patriarchalischen Kultur an und betrachtete seinen Gott in bewusster Reaktion auf den Kult weiblicher Gottheiten der Völker, von denen es umgeben war, als männlich. Doch das Tao ist wesentlich weiblich, es ist die Wurzel, der Grund, das Empfangende.“
Im Weiteren beschreibt er das Weibliche als eine aktive Passivität, „eine Empfänglichkeit, die dynamisch und schöpferisch ist, aus der alles Leben und alle Fruchtbarkeit, alle Liebe und Gemeinschaft hervorgehen. Und er kommt zu dem Schluss: „ Die heutige Welt müsste diesen Sinn für die weibliche Kraft unbedingt wieder entdecken, die das Männliche ergänzt und ohne die der Mann tyrannisch, steril und destruktiv wird.“ Wie wahr!
Bede Griffiths Gedanken und grundsätzlichen Anliegen bezüglich eines not-wendenden Bewusstseinswandels der Menschen gehören weitergetragen und Roland Ropers nimmt diesen Faden auf, indem er in Teil II Texte vorstellt und interpretiert, die Bede Griffiths Passagen genial untermauern.


temporik-art – Die Kunst, Bewusstsein zu gestalten

Von Marina Stachowiak, Reinheim – raum&zeit Ausgabe 214/2018

Unsere innere Wirklichkeit ist ein sehr lebendiges und schöpferisches Gefüge. Wenn wir tief in sie hinabsteigen, haben wir wie ein Künstler die Möglichkeit, Düsteres in Helles zu verwandeln. Wir können einschneidende Erlebnisse oder übernommene Themen von Ahnen, die vorher belastend waren, umgestalten, sodass sie uns stärken. Eine Methode, die solche Prozesse in Gang bringt und begleitet, ist temporik-art. In Anlehnung an den Philosophen Jean Gebser ist es ihr Ziel, Menschen in die Freiheit vom Ich und zu einer integralen Bewusstseinsstruktur zu führen.

Link zum Beitrag

raum&zeit

Hochsensibilität in Zeiten des Bewusstseinswandels

Über einen Fluch und eine Gabe

(Beitrag von Marina Stachowiak in Tattva Viveka 75)

In einer Welt zu funktionieren, die eine permanente Überreizung darstellt, ist die Herausforderung für hochsensible Menschen. Dabei handelt es sich nicht um eine psychische Störung, sondern um ein ausgeprägtes Nervensystem und Reize, die nicht gefiltert werden. Der Segen ist eine komplexere Wahrnehmung, die zu seherischen Fähigkeiten führen kann. Der Fluch: Wie umgehen damit in einer lärmenden Welt?

Ich passe nicht in die Welt
Dieser Mustersatz hat mich den größten Teil meines Lebens begleitet. Ich wollte so wie die anderen sein, wollte gesehen und ernst genommen werden sowie teilhaben an der Gemeinschaft mit anderen. Aber ich trug eine Tarnkappe, wurde übersehen oder geriet in ungerechte oder gewaltsame Zusammenhänge, in denen ich ausgebeutet wurde. Ich interessierte mich für ganz andere Dinge als die Menschen, mit denen ich lebte oder zusammen war. Meine Interessensgebiete waren vielgestaltig und ich war immer irgendwie schöpferisch tätig. Ich wollte wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält, aber das interessierte die meisten anderen überhaupt nicht. So verbarg ich mein Innerstes und tat so, als könnte mich nichts erschüttern. Ich legte mir eine zweite Haut um, die anderen meine vermeintliche Schwäche verbarg und mich gleichzeitig vor den anderen schützte. Die vorwurfsvollen Sätze, die ich als Kind gehört hatte, sagte ich mir nun selber: Stell dich nicht so an. Übe dich in Geduld. Sei doch nicht gleich so empfindlich. Nun nimm dich aber mal zusammen. Im Frühjahr 2014 entdeckte ich, dass ich hochsensibel bin und damit zu den 15–20 % derjenigen gehöre, die weitaus mehr Reize aufnehmen und verarbeiten müssen als normalsensible Menschen.

Zu allen Zeiten hat es hochsensible Menschen gegeben, die sehr viel empfindsamer waren und mehr Mitgefühl mit anderen Menschen oder Tieren hatten als der größte Teil ihrer Mitmenschen.

Oft waren es Menschen, die nicht nur sehr empathisch fühlten, sondern auch hellsichtig waren und über eine stark ausgeprägte Intuition verfügten. In vielen Kulturen waren diese Menschen geachtet und bei Problemen und Schwierigkeiten suchte man Hilfe und Rat bei ihnen. Sie waren spirituell in ihrem Kontext, waren Künstler und Alchemisten, Heilkundige und Menschen, die mehr Einblick in die verschiedenen Bereiche des menschlichen Bewusstseins hatten. In manchen Kulturen ist das auch heute noch so, dass hochsensitive oder hochsensible Menschen geachtet und geschätzt sind.

Dies sind Ausschnitte aus dem Artikel.

Erfahren Sie mehr über den Zusammenhang zwischen integralem Bewusstsein und Hochsensibilität!

Lesen Sie die vollständige Fassung in Tattva Viveka 75


Zum 40. Todestag von Jean Gebser

von Marina Stachowiak

Der Ursprung ist immer gegenwärtig. Er ist kein Anfang, denn aller Anfang ist zeitgebunden. Und die Gegenwart ist nicht das bloße Jetzt, das Heute oder der Augenblick. Sie ist nicht ein Zeitteil, sondern eine ganzheitliche Leistung, und damit auch immer ursprünglich. Wer es vermag, Ursprung und Gegenwart als Ganzheit zu Wirkung und Wirklichkeit zu bringen, sie zu konkretisieren, der überwindet Anfang und Ende und die bloß heutige Zeit.

(Jean Gebser)

Mit diesen Worten beginnt Jean Gebser sein großartiges und gerade heute hochaktuelles Werk Ursprung und Gegenwart, in dem er die abendländische Bewusstseinsgeschichte anhand vieler Belege aus den verschiedensten Disziplinen aufzeigt und nachweist.

Heute, am 14. Mai 2013, ist sein 40. Todestag. Jean Gebser starb in den frühen Morgenstunden mit 68 Jahren in Wabern bei Bern. Er war einer der großen Bewusstseinsforscher und Visionär eines neuen Bewusstseins, das er als integral bezeichnete. Gebsers Vermächtnis war und ist nicht nur mir und dem Institut für Integrale Bewusstseinsbildung wegweisend, sondern auch vielen Menschen auf der ganzen Welt, die an Tiefe, Grund und Sinn interessiert sind.

Jean Gebser hat uns mit seinem Strukturmodell des menschheitlichen Bewusstseins auch das Wesen der eigenen Bewusstseinssphäre aufgezeigt. Demnach ist das menschliche Bewusstsein ein Simile der menschheitlichen Bewusstseinsmutationen. Denn durch Gebser wissen wir heute, dass jeder Mensch in der individuellen Entwicklung vom Säugling zum Erwachsenen die jeweiligen Stadien der menschheitlichen Bewusstseinsentfaltung erneut durchlaufen muss. Dies bedeutet für den einzelnen Menschen eine enorme geistige Leistung, die, wenn sie vollzogen ist, zu einem Dimensionsgewinn führt.

Mit Temporik-ART können wir Gebsers Modell nun nach so langer Zeit eine praktische Methode zur Seite stellen, die erstmals dazu in der Lage ist, die von Gebser aufgezeigten und uns konstituierenden Bewusstseinsstufen aufzufinden und sie schöpferisch zu verändern, sie uns bewusst werden zu lassen und sie zu integrieren. Dass es so lange gedauert hat, Gebsers Modell eine praktisch handhabbare Methode zur Seite zu stellen, zeugt von der Langsamkeit von Bewusstwerdungsprozessen, aber auch von der Mühsal, die sie mit sich bringen.

In seinem Werk Ursprung und Gegenwart beschreibt Gebser fünf Stufen bzw. Mutationen der geistigen Entfaltung des menschlichen Bewusstseins, die archaische, magische, mythische, mentale und die sich entfaltende integrale Struktur. Dabei distanziert er sich ausdrücklich von dem Begriff der Entwicklung im Sinne einer allgemein als lineares Geschehen verstandenen Bedeutung. Vielmehr ist das, was Gebser als Mutation beschreibt, ein sprunghaftes, akausales und plötzlich sich vollziehendes Geschehen, wobei jede neu mutierende Stufe die bereits vorhandenen integriert. Anders als andere Denker vor ihm, welche die kulturelle Entwicklung als linearen Prozess des Aufkommens neuer und besserer Formen und des Absterbens überkommener sahen, bleiben die bereits vollzogenen Mutationen laut Gebser bestehen und werden von den jeweils neuen Mutationen umfangen. So wirken sämtliche Stufen in einem hierarchischen Gefüge ineinander und miteinander, wobei jede Bewusstseinsmutation einen Dimensionsgewinn darstellt. Dabei ist jede Stufe ein Nachvollzug dessen, was bereits wirkt bzw. was bereits im Ursprung angelegt ist, da jede Stufe aus dem unsichtbaren Ursprung, der für Gebser geistig-göttlicher Natur ist, mutiert.

Jede Mutation verläuft in zwei Phasen, die sich unterschiedlich ausprägen. Während der effizienten Phase geht es um das Verständnis und das Erfassen der neuen Qualität, wobei das Schöpferische im Vordergrund steht. Wenn die neue Qualität manifestiert und stabilisiert ist, beginnt sich bereits die defiziente Phase abzuzeichnen, die Struktur ist in ihrer Qualität erschöpft und es zeigen sich bereits die Anzeichen der neuen Struktur, die schließlich in die Mutation führen.

In unseren Tagen durchleben wir einen solchen Bewusstseinswandel, nämlich denjenigen aus der mental-rationalen Struktur in die sich bereits seit langem ankündigende integrale Struktur.

Die Defizienzphase, in der wir uns gerade bewegen, zeitigt enorme Veränderungen, ein großes Chaos in allen möglichen Bereichen, viele Krankheiten und Stressparameter, mit denen wir konfrontiert sind. Vor allem die großen Themen der integralen Struktur, die Zeit als Qualität und Intensität und das Geistige als der alles durchscheinende und umspannende Ursprung sind diejenigen Bereiche, die sich vorwiegend noch in der defizienten Form zeigen. Was das Thema der Zeit betrifft, so begegnet uns etwa die Getriebenheit, Schnelllebigkeit und Hast, weil kaum mehr ein Mensch alle Anforderungen, die ihm gestellt sind, bewältigen kann und nach wie vor die meisten Menschen die Zeit als mental-rationale Uhrenzeit verstehen, nicht jedoch als eine grundlegende Qualität.

Seit Einstein wissen wir von der Zeit als einer vierten Dimension, wenn auch nur als einer berechenbaren Größe, aber in vielerlei Hinsicht wird verstärkt über die Zeit als einer akathegorialen Größe nachgedacht wie zum Beispiel in der Quantenphysik und denjenigen Bereichen, die bestrebt sind, die Erkenntnisse der Quantenphysik aufzunehmen und umzusetzen, wie es in Temporik-ART auf ganz praktische Weise geschieht.

Was das Geistige angeht, so begegnet es uns ebenfalls in defizienten Formen, die eher an Rückfälle in bereits überwundene Strukturen erinnern als daran, was Gebser mit dem Geistigen meint. Nämlich die Diaphanität, das Durchscheinen des Geistigen als dem ursprünglichen und tragenden Prinzip. In etlichen Bereichen scheint das Geistige jedoch bereits seit langem durch, wobei wieder die Quantenphysik zu nennen ist, aber auch alle Bereiche, in denen es nicht mehr nur um Systeme geht, sondern bereits um Strukturen, so wie in Temporik-ART.

Das integrale Verständnis der Wirklichkeit bedarf einer Bewusstwerdung des Weltganzen als Verwirklichungshierarchie, in der alles mit allem verbunden ist und in ständiger Wechselwirkung miteinander steht. Es bedarf des inneren Gewahrwerdens aller bereits geleisteter Bewusstseinsmutationen und einen grundlegenden Wandel der bisherigen Ichbezogenheit hin zu einem Miteinander und Füreinander, hin zu einem Sich, wie Gebser es nennt.

Um diesen Übergang aus der defizienten rationalen Struktur in die integrale zu leisten, hat uns Jean Gebser das theoretische Modell geliefert, das jeder und jedem von uns den Weg weisen kann, der zu gehen ist, um diese Phase des Übergangs gefahrlos zu überstehen. Es ist die Aufgabe des einzelnen Menschen, diesen Übergang zu leisten. Temporik-ART bietet hierzu die gestalterischen Mittel, die dem tieferen Verständnis dessen, worauf es in diesen Tagen ankommt, Wege in ein Zeit-freies und Ich-freies Leben weisen.

Es ist eines nötig: einmal in seinem Leben wenigstens eines ganz getan zu haben. Ganz. Mit allem Einsatz. Bis zum stärksten Verlust. Bis zur endgültigen Aufgabe des eigenen Ichs. Einmal über sich selbst hinausspringen und an die Himmel rühren. Einmal die Spannung so weit zu treiben, daß es nur noch das Entweder-Oder gibt. Wenn man da hinüber kann, dann kann man durch.

(Jean Gebser)

Die Rückkehr der Göttin

Artikel von Marina Stachowiak in: art photo akt, magazin für internationale aktfotografie

Spätestens seit James Lovelocks „Gaia-Prinzip“ weiß es auch die Wissenschaft: Die Erde ist ein Wesen! Was gestern noch als Mythos galt, und was heute Systemwissenschaftler für wahr erachten, zeugt von tiefem menschlichen Wissen, das aus den Schichten des kollektiven Unbewussten allmählich wieder an die Oberfläche rationaler Erkenntnis gelangt. Glücklicherweise, so darf man sagen, denn angesichts des drohenden globalen Kollapses bedarf es eines neuen Denkens über das Leben auf unserem Planeten und es braucht vor allem einen neuen Umgang mit der Erde. Der Drang zur Unterdrückung und Ausbeutung hat seine Stoßkraft verausgabt, und die Folgen sind heute klar erkennbar. Die Rückkehr der Göttin kommt zur rechten Zeit, zeugt sie doch nicht nur von einem anderen Umgang mit der Frau oder dem Weiblichen an sich, sondern auch von einem veränderten Umgang mit der Erde.

Die Rückkehr der Göttin in: art photo akt, magazin für internationale aktfotografie, (Heft 4, 2002: frauen fotografieren Frauen). Hrsg: Andrej Kulakowski, Galerie Kunst und Design, Reichelsheim, print medien vertrieb, Lampertheim. rueckkehr.pdf

Die Erde ist ein Wesen.

Von diesem Wissen sprechen bereits Kunstwerke, die bis zu 37.000 Jahre alt sind. Von der Altsteinzeit bis hin zu den frühesten Hochkulturen schufen Menschen in Frankreich und Spanien, im gesamten Mittelmeerraum und Nahen Osten, sowie in Russland und Osteuropa unzählige nackte weibliche Figuren, die heute unter Bezeichnungen wie „Figur einer Frau oder „Venus“ in den archäologischen Abteilungen der Museen zu bewundern sind. Aus Ton und Asche gebrannt, aus Elfenbein, Horn und Knochen geschnitzt oder in Stein gehauen wurden sie nicht nur in Europa, sondern weltweit gefunden. Diese Bilddokumente zeugen von einer 30.000-jährigen Epoche früher Menschheitsgeschichte und spielen heute in der Archäologie eine zentrale Rolle.

Früheste Pornographie? Weit gefehlt! Auch wenn dies einige Gelehrte zunächst annahmen. Aber wie bei vielen anderen Irrtümern vermochte auch hier der eigene kulturelle und individuelle Erfahrungshintergrund die wissenschaftliche Interpretation zu verfälschen. Erst allmählich erweiterte sich hier der wissenschaftliche Horizont und führte aus einem anderen Blickwinkel heraus in jenen weit größeren Teil der Menschheitsgeschichte, deren Existenz man bis heute lapidar mit Vorgeschichte beschreibt. In jene Geschichte nämlich, in der für unsere Vorfahren die „Magna Mater“, die Große Mutter und Göttin der Inbegriff des Lebens war.

Häufig mit Ornamenten verziert, kennzeichnen üppige Körper mit großen Brüsten und stark betontem Geschlecht, verhältnismäßig kleine Gliedmaßen und ein meist kleiner Kopf, bei dem häufig das Gesicht verdeckt ist, die Typologie dieser Frauenfiguren. Sie zeugen von einer weltweiten sakralen Symbolsprache, die die lebensspendende Kraft der Frau und Göttin und das zyklische Geschehen von Leben, Tod und Wiedergeburt symbolisiert.

Eine der berühmtesten Muttergöttinnen ist die altsteinzeitliche „Venus von Willendorf“. Gerade einmal 11 cm hoch, aus feinem Sandstein gearbeitet und mit rotem Ocker bemalt, gehört sie zu den Kostbarkeiten des Naturhistorischen Museums Wien. Ihr Alter wird auf ca. 25.000 Jahre geschätzt. In der Gebärde des Darbietens sind die kleinen Arme über die großen Brüste gelegt, eine Geste des Gebens und Verströmens. Die Haare kreisen in Zöpfen um den Kopf und bedecken das Gesicht der Göttin als Ausdruck überpersönlichen numinosen Charakters. Verhüllt ist das, was der Mensch nicht direkt wahrzunehmen vermag: das Geheimnisvolle und Heilige, das, was hinter den Dingen verborgen ist, und in das er dennoch eingebunden ist, von dem er Teil ist und an dem er Teil hat.

Kunstwerke wie dieses offenbaren eine tiefe Ehrfurcht vor dem Leben und besonders vor der Großen Mutter. Sie wird verehrt, weil sie das Leben schenkt und bewahrt. Aus ihrem Bauch gebiert sie das Leben, zu ihr kehrt schließlich alles wieder zurück.

In zahllosen Schöpfungsmythen der verschiedensten Kulturen der Erde wird die Rolle beschrieben, die das weibliche Prinzip bei der Erschaffung der Welt spielte. Sie zeugen von der ewigen Allgegenwärtigkeit der Göttin, die gleichfalls Mutter des Kosmos, Spenderin des Lebens, Nährende, Erhaltende und Heilerin ist. Sie ist Jungfrau, Liebende, Mutter und Alte. Und sie ist die Todbringende. Sie gibt und nimmt, schenkt und vernichtet gleichermaßen. Sie ist die Verkörperung dessen, was Leben ist, denn sie ist das Leben selbst. Ihre Geschichte berichtet von den Anfängen menschlicher Kultur, von der lebendigen Rolle des göttlichen Weiblichen und schließlich von ihrem eigenen Niedergang. Mit ihrem Niedergang ist auch das Schicksal der Frauen verbunden, sowie die kulturellen, politischen, ökonomischen und ökologischen Auswirkungen, und die daraus resultierende veränderte Haltung gegenüber dem Leben und der Natur. Ihre Geschichte ist die Geschichte unserer eigenen Zivilisation; ihr Schicksal ist auch gleichfalls unser eigenes.

Auch wenn wir heute von keiner Göttin mehr wissen, sie war und ist doch stets präsent in unserem kollektiven Unbewussten, dort allerdings vorwiegend in ihren negativen Aspekten. Denn je nachdrücklicher sie aus dem Bewusstsein verbannt und geleugnet wird, desto bedrohlicher ziehen ihre Bilder herauf; Bilder von bösen Zauberinnen und Hexen, von Huren und Verführerinnen, von Frauen, die Krankheit und Tod bringen.

Die Wiederkehr der Großen Mutter ist heute zur Metapher eines neuen Bewusstseins geworden. Metapher für ein neues Verständnis der Erde als Wesen – wie es Systemwissenschaften und Ökologiebewegung entwickeln, Metapher für die Wertschätzung des Weiblichen als polare Entsprechung des Männlichen, Metapher auch für einen veränderten Umgang mit uns selbst, unserem Körper und unserer Geschlechtlichkeit.