Die Rückkehr der Göttin
Artikel von Marina Stachowiak in: art photo akt, magazin für internationale aktfotografie
Spätestens seit James Lovelocks „Gaia-Prinzip“ weiß es auch die Wissenschaft: Die Erde ist ein Wesen! Was gestern noch als Mythos galt, und was heute Systemwissenschaftler für wahr erachten, zeugt von tiefem menschlichen Wissen, das aus den Schichten des kollektiven Unbewussten allmählich wieder an die Oberfläche rationaler Erkenntnis gelangt. Glücklicherweise, so darf man sagen, denn angesichts des drohenden globalen Kollapses bedarf es eines neuen Denkens über das Leben auf unserem Planeten und es braucht vor allem einen neuen Umgang mit der Erde. Der Drang zur Unterdrückung und Ausbeutung hat seine Stoßkraft verausgabt, und die Folgen sind heute klar erkennbar. Die Rückkehr der Göttin kommt zur rechten Zeit, zeugt sie doch nicht nur von einem anderen Umgang mit der Frau oder dem Weiblichen an sich, sondern auch von einem veränderten Umgang mit der Erde.
Die Rückkehr der Göttin in: art photo akt, magazin für internationale aktfotografie, (Heft 4, 2002: frauen fotografieren Frauen). Hrsg: Andrej Kulakowski, Galerie Kunst und Design, Reichelsheim, print medien vertrieb, Lampertheim. rueckkehr.pdf
Die Erde ist ein Wesen.
Von diesem Wissen sprechen bereits Kunstwerke, die bis zu 37.000 Jahre alt sind. Von der Altsteinzeit bis hin zu den frühesten Hochkulturen schufen Menschen in Frankreich und Spanien, im gesamten Mittelmeerraum und Nahen Osten, sowie in Russland und Osteuropa unzählige nackte weibliche Figuren, die heute unter Bezeichnungen wie „Figur einer Frau oder „Venus“ in den archäologischen Abteilungen der Museen zu bewundern sind. Aus Ton und Asche gebrannt, aus Elfenbein, Horn und Knochen geschnitzt oder in Stein gehauen wurden sie nicht nur in Europa, sondern weltweit gefunden. Diese Bilddokumente zeugen von einer 30.000-jährigen Epoche früher Menschheitsgeschichte und spielen heute in der Archäologie eine zentrale Rolle.
Früheste Pornographie? Weit gefehlt! Auch wenn dies einige Gelehrte zunächst annahmen. Aber wie bei vielen anderen Irrtümern vermochte auch hier der eigene kulturelle und individuelle Erfahrungshintergrund die wissenschaftliche Interpretation zu verfälschen. Erst allmählich erweiterte sich hier der wissenschaftliche Horizont und führte aus einem anderen Blickwinkel heraus in jenen weit größeren Teil der Menschheitsgeschichte, deren Existenz man bis heute lapidar mit Vorgeschichte beschreibt. In jene Geschichte nämlich, in der für unsere Vorfahren die „Magna Mater“, die Große Mutter und Göttin der Inbegriff des Lebens war.
Häufig mit Ornamenten verziert, kennzeichnen üppige Körper mit großen Brüsten und stark betontem Geschlecht, verhältnismäßig kleine Gliedmaßen und ein meist kleiner Kopf, bei dem häufig das Gesicht verdeckt ist, die Typologie dieser Frauenfiguren. Sie zeugen von einer weltweiten sakralen Symbolsprache, die die lebensspendende Kraft der Frau und Göttin und das zyklische Geschehen von Leben, Tod und Wiedergeburt symbolisiert.
Eine der berühmtesten Muttergöttinnen ist die altsteinzeitliche „Venus von Willendorf“. Gerade einmal 11 cm hoch, aus feinem Sandstein gearbeitet und mit rotem Ocker bemalt, gehört sie zu den Kostbarkeiten des Naturhistorischen Museums Wien. Ihr Alter wird auf ca. 25.000 Jahre geschätzt. In der Gebärde des Darbietens sind die kleinen Arme über die großen Brüste gelegt, eine Geste des Gebens und Verströmens. Die Haare kreisen in Zöpfen um den Kopf und bedecken das Gesicht der Göttin als Ausdruck überpersönlichen numinosen Charakters. Verhüllt ist das, was der Mensch nicht direkt wahrzunehmen vermag: das Geheimnisvolle und Heilige, das, was hinter den Dingen verborgen ist, und in das er dennoch eingebunden ist, von dem er Teil ist und an dem er Teil hat.
Kunstwerke wie dieses offenbaren eine tiefe Ehrfurcht vor dem Leben und besonders vor der Großen Mutter. Sie wird verehrt, weil sie das Leben schenkt und bewahrt. Aus ihrem Bauch gebiert sie das Leben, zu ihr kehrt schließlich alles wieder zurück.
In zahllosen Schöpfungsmythen der verschiedensten Kulturen der Erde wird die Rolle beschrieben, die das weibliche Prinzip bei der Erschaffung der Welt spielte. Sie zeugen von der ewigen Allgegenwärtigkeit der Göttin, die gleichfalls Mutter des Kosmos, Spenderin des Lebens, Nährende, Erhaltende und Heilerin ist. Sie ist Jungfrau, Liebende, Mutter und Alte. Und sie ist die Todbringende. Sie gibt und nimmt, schenkt und vernichtet gleichermaßen. Sie ist die Verkörperung dessen, was Leben ist, denn sie ist das Leben selbst. Ihre Geschichte berichtet von den Anfängen menschlicher Kultur, von der lebendigen Rolle des göttlichen Weiblichen und schließlich von ihrem eigenen Niedergang. Mit ihrem Niedergang ist auch das Schicksal der Frauen verbunden, sowie die kulturellen, politischen, ökonomischen und ökologischen Auswirkungen, und die daraus resultierende veränderte Haltung gegenüber dem Leben und der Natur. Ihre Geschichte ist die Geschichte unserer eigenen Zivilisation; ihr Schicksal ist auch gleichfalls unser eigenes.
Auch wenn wir heute von keiner Göttin mehr wissen, sie war und ist doch stets präsent in unserem kollektiven Unbewussten, dort allerdings vorwiegend in ihren negativen Aspekten. Denn je nachdrücklicher sie aus dem Bewusstsein verbannt und geleugnet wird, desto bedrohlicher ziehen ihre Bilder herauf; Bilder von bösen Zauberinnen und Hexen, von Huren und Verführerinnen, von Frauen, die Krankheit und Tod bringen.
Die Wiederkehr der Großen Mutter ist heute zur Metapher eines neuen Bewusstseins geworden. Metapher für ein neues Verständnis der Erde als Wesen – wie es Systemwissenschaften und Ökologiebewegung entwickeln, Metapher für die Wertschätzung des Weiblichen als polare Entsprechung des Männlichen, Metapher auch für einen veränderten Umgang mit uns selbst, unserem Körper und unserer Geschlechtlichkeit.