Ursula Wirtz: Stirb und werde. Die Wandlungskraft traumatischer Erfahrungen

Ursula Wirtz: Stirb und werde. Die Wandlungskraft traumatischer Erfahrungen

Rezension vom Marina Stachowiak, 23.11.2018 : Die Spirituelle Dimension

Neben dem bisher Gesagten möchte ich besonders zwei zentrale Gesichtspunkte in diesem genialen und tiefgängigen Buch aufgreifen: Die spirituelle Dimension, die traumatischen Erfahrungen innewohnt (Kap. 3) und jene Ursachen von Gewalt, insbesondere sexueller Gewalt, die auf der Missachtung und Unterdrückung des Weiblichen in unseren Seelen beruht.

In ihren abschließenden Gedanken schreibt Ursula Wirtz, dass sie versucht, einen Paradigmenwechsel in der Traumaforschung vorzustellen, „der auf die Möglichkeit psychospirituellen Wachstums nach traumatischen Erfahrungen verweist und in der Überzeugung wurzelt, dass der Dunkelbereich der prima materia, das »Herz der Finsternis«, auch zu einer schöpferischen Quelle werden kann.“ Das ist ihr auf einfühlsame und tiefgehende Weise gelungen.

Im Hinblick auf Spiritualität distanziert sich Wirtz von institutionalisierter konfessioneller Religion indem sie sich auf „den auf Erfahrung gründenden Kern des Religiösen bezieht“. Denn, so Wirtz: „Spiritualität bedeutet Verbundenheit mit und Beziehung zu einem umfassenden Letztgültigen von höchstem Wert, aber auch zum Mitmenschen und zur Schöpfung als Ganzem.“ (S. 65) Dabei verweist sie auf Carl Gustav Jungs Rotes Buch und seinen Bezug zur Mystik, insbesondere zu Meister Eckhart, und dann schreibt sie diesen wunderbaren Satz: „Vielleicht braucht unsere Zeit etwas mehr Meister Eckhart“. Im Einverständnis mit Jung distanziert sie sich von dem projektiven männlichen Gottesbild, indem sie jenes mystische Verständnis von Spiritualität in den Vordergrund stellt, dass letztlich jeder Religion zugrunde liegt: „Es wird darum gehen, unsere Projektionen auf Gott zurückzunehmen und uns für die Erfahrung eines unergründbaren Seins, mit dem wir verbunden sind und das sich in uns verkörpert, zu öffnen.“ (S. 67)

Die Bewusstwerdung einer spirituellen Wirklichkeit, wie sie in den mystischen Traditionen angestrebt wird, ist aber nur durch die Überwindung des Ich, durch seine Transzendierung möglich, ein Vorgang, der durch eine tiefe Krise führt. Aber gerade diese Krise dient als Sprungbrett zu jenem Anderen, das erst dann erfahren werden kann.

Der Bezug, den Wirtz zur „psychospirituellen Wandlung“ nach einer Traumatisierung nimmt, ist ausgesprochen einleuchtend. Denn in jedem Trauma steckt eine tiefe Sinnkrise, die für den betroffenen Menschen im Hinblick auf seine weitere Entwicklung ausschlaggebend ist. Nimmt er, was ihm geschehen ist als Potenzial zur Wandlung? Da das traumatische Erlebnis einen Menschen augenblicklich aus seinem Ich und damit seinem bisherigen Blickwinkel auf sich selbst und die Welt herausschleudert, wird ein ähnlicher Zustand geschaffen, wie er auch als spirituelle Krise in den mystischen Traditionen beschrieben ist, eine Art Hadesfahrt. „Diese transnarzisstische Erfahrung geschieht bei einer Traumatisierung völlig unfreiwillig und nicht schrittweise wie auf dem spirituellen Übungspfad. Das Ich wird aus den Angeln gehoben und alles, woran vorher geglaubt wurde, alle Überzeugungen über sich selbst, die Welt und Gott, werden in der traumatischen Erfahrung zerschmettert.“ (S. 71)

Insofern können traumatische Erlebnisse als Schwellenerfahrungen „initiatorisch den spirituellen Raum öffnen und ein Erfassen der Wirklichkeit ermöglichen, das die Ich-Perspektive sprengt und den Sinn des Ganzen wahrnimmt.“ (S. 98) Wirtz versteht eine Traumatisierung als „potenziell transformatorischen Prozess“, der zu einer Neuorientierung und Sinngebung führt, in dem Zerstörung und Reifung komplementär sind. (S. 187)

In diesem Zusammenhang hat es mich sehr gefreut, dass Wirtz die Ergebnisse der Systemwissenschaften und der Quantenphysik aufgegriffen hat. Sie machen uns deutlich, dass Entwicklung eben nicht linear und vorausberechenbar verläuft, sondern sich in Sprüngen vollzieht. Und genau das geschieht auch in unserem Inneren, in unserem Bewusstsein. Auch hier gibt es Phasenübergänge, Bifurkationen und chaotische Zustände, die verunsichern, Angst machen, kaum zu ertragen sind und uns aus allem herauskatapultieren. Aber gerade sie sind es, die aus Zuständen der größten Instabilität, die auch gleichzeitig Zustände der größten schöpferischen Freiheit sind – was der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr immer betonte – aus denen plötzlich und nicht vorhersehbar eine ganz neue und höherwertige Ordnungsstruktur entsteht. Hier liegt begründet, wie überhaupt etwas Neues entsteht und dass der Weg in eine höherwertige Struktur immer durch einen emergenten Wandlungsprozess führt.

Wirtz betont, dass für die Analytische Psychologie weniger der wissenschaftliche als vielmehr der mythologische Kontext von Bedeutung ist, weil er nicht auf der mentalen Ebene angesiedelt ist, sondern ebenso wie das Geschehen in der Psyche – oder auch in der Quantenphysik – mehrdeutig und paradox zu verstehen ist. Diesbezüglich verweist sie auf verschiedene Mythen, in denen die paradox-polaren und mehrdeutigen Kräfte des Weiblichen zum Ausdruck kommen, etwa im „geschändeten Weiblichen“ bei Medusa (S. 59) oder in der „transformativen Kraft der Wut“ bei Kali (S. 54).

„Im Kontext männlicher Gewaltherrschaft über das Weibliche symbolisiert der Mythos das Zum-Schweigen-Bringen der als heilig erachteten weiblichen Weisheit, wie sie von der Gorgone Medusa verkörpert wird. Allgemein formuliert geht es um die Vergewaltigung des Weiblichen in einer patriarchalen Kultur.“ (S. 62) Kurz: Auf DEN Punkt gebracht!

Es gälte noch auf vieles hinzuweisen, mit dem sich Wirtz in ihrem Buch auseinandersetzt, etwa auf die Pseudoversöhnung, die heute vielfach praktiziert wird und zu Selbstentfremdung und Fragmentierung, statt zu Integration und Heilung führt (S. 141). Auch die Dialektik von individueller wie kollektiver Opferschaft und Täterschaft, die zu so vielen Missverständnissen und Feindschaften führt, ist ein wesentlicher Hinweis auf eine not-wendende innere Arbeit und ein Hinweis darauf, was es braucht, um ein friedliches Miteinander in der Welt zu gestalten. Hierzu gehört auch das transgenerationale Erbe, das, wenn es uns nicht bewusst wird, sich weiter fortpflanzt und selbstähnliche Gegebenheiten erzeugt, welche wiederum selbstähnliche psychische Strukturen hinterlassen.

Alles in allem ein sehr lesenswertes und obendrein auch noch sehr spannendes Buch, das ich nur empfehlen kann. Ein wichtiges Buch, das entscheidende Wege zum individuellen und kollektiven Frieden aufzeigt.