Zum 40. Todestag von Jean Gebser

Zum 40. Todestag von Jean Gebser

von Marina Stachowiak

Der Ursprung ist immer gegenwärtig. Er ist kein Anfang, denn aller Anfang ist zeitgebunden. Und die Gegenwart ist nicht das bloße Jetzt, das Heute oder der Augenblick. Sie ist nicht ein Zeitteil, sondern eine ganzheitliche Leistung, und damit auch immer ursprünglich. Wer es vermag, Ursprung und Gegenwart als Ganzheit zu Wirkung und Wirklichkeit zu bringen, sie zu konkretisieren, der überwindet Anfang und Ende und die bloß heutige Zeit. (Jean Gebser)

Mit diesen Worten beginnt Jean Gebser sein großartiges und gerade heute hochaktuelles Werk Ursprung und Gegenwart, in dem er die abendländische Bewusstseinsgeschichte anhand vieler Belege aus den verschiedensten Disziplinen aufzeigt und nachweist.

Heute, am 14. Mai 2013, ist sein 40. Todestag. Jean Gebser starb in den frühen Morgenstunden mit 68 Jahren in Wabern bei Bern. Er war einer der großen Bewusstseinsforscher und Visionär eines neuen Bewusstseins, das er als integral bezeichnete. Gebsers Vermächtnis war und ist nicht nur mir und dem Institut für Integrale Bewusstseinsbildung wegweisend, sondern auch vielen Menschen auf der ganzen Welt, die an Tiefe, Grund und Sinn interessiert sind.

Jean Gebser hat uns mit seinem Strukturmodell des menschheitlichen Bewusstseins auch das Wesen der eigenen Bewusstseinssphäre aufgezeigt. Demnach ist das menschliche Bewusstsein ein Simile der menschheitlichen Bewusstseinsmutationen. Denn durch Gebser wissen wir heute, dass jeder Mensch in der individuellen Entwicklung vom Säugling zum Erwachsenen die jeweiligen Stadien der menschheitlichen Bewusstseinsentfaltung erneut durchlaufen muss. Dies bedeutet für den einzelnen Menschen eine enorme geistige Leistung, die, wenn sie vollzogen ist, zu einem Dimensionsgewinn führt.

Mit Temporik-ART können wir Gebsers Modell nun nach so langer Zeit eine praktische Methode zur Seite stellen, die erstmals dazu in der Lage ist, die von Gebser aufgezeigten und uns konstituierenden Bewusstseinsstufen aufzufinden und sie schöpferisch zu verändern, sie uns bewusst werden zu lassen und sie zu integrieren. Dass es so lange gedauert hat, Gebsers Modell eine praktisch handhabbare Methode zur Seite zu stellen, zeugt von der Langsamkeit von Bewusstwerdungsprozessen, aber auch von der Mühsal, die sie mit sich bringen.

In seinem Werk Ursprung und Gegenwart beschreibt Gebser fünf Stufen bzw. Mutationen der geistigen Entfaltung des menschlichen Bewusstseins, die archaische, magische, mythische, mentale und die sich entfaltende integrale Struktur. Dabei distanziert er sich ausdrücklich von dem Begriff der Entwicklung im Sinne einer allgemein als lineares Geschehen verstandenen Bedeutung. Vielmehr ist das, was Gebser als Mutation beschreibt, ein sprunghaftes, akausales und plötzlich sich vollziehendes Geschehen, wobei jede neu mutierende Stufe die bereits vorhandenen integriert. Anders als andere Denker vor ihm, welche die kulturelle Entwicklung als linearen Prozess des Aufkommens neuer und besserer Formen und des Absterbens überkommener sahen, bleiben die bereits vollzogenen Mutationen laut Gebser bestehen und werden von den jeweils neuen Mutationen umfangen. So wirken sämtliche Stufen in einem hierarchischen Gefüge ineinander und miteinander, wobei jede Bewusstseinsmutation einen Dimensionsgewinn darstellt. Dabei ist jede Stufe ein Nachvollzug dessen, was bereits wirkt bzw. was bereits im Ursprung angelegt ist, da jede Stufe aus dem unsichtbaren Ursprung, der für Gebser geistig-göttlicher Natur ist, mutiert.

Jede Mutation verläuft in zwei Phasen, die sich unterschiedlich ausprägen. Während der effizienten Phase geht es um das Verständnis und das Erfassen der neuen Qualität, wobei das Schöpferische im Vordergrund steht. Wenn die neue Qualität manifestiert und stabilisiert ist, beginnt sich bereits die defiziente Phase abzuzeichnen, die Struktur ist in ihrer Qualität erschöpft und es zeigen sich bereits die Anzeichen der neuen Struktur, die schließlich in die Mutation führen.

In unseren Tagen durchleben wir einen solchen Bewusstseinswandel, nämlich denjenigen aus der mental-rationalen Struktur in die sich bereits seit langem ankündigende integrale Struktur.

Die Defizienzphase, in der wir uns gerade bewegen, zeitigt enorme Veränderungen, ein großes Chaos in allen möglichen Bereichen, viele Krankheiten und Stressparameter, mit denen wir konfrontiert sind. Vor allem die großen Themen der integralen Struktur, die Zeit als Qualität und Intensität und das Geistige als der alles durchscheinende und umspannende Ursprung sind diejenigen Bereiche, die sich vorwiegend noch in der defizienten Form zeigen. Was das Thema der Zeit betrifft, so begegnet uns etwa die Getriebenheit, Schnelllebigkeit und Hast, weil kaum mehr ein Mensch alle Anforderungen, die ihm gestellt sind, bewältigen kann und nach wie vor die meisten Menschen die Zeit als mental-rationale Uhrenzeit verstehen, nicht jedoch als eine grundlegende Qualität.

Seit Einstein wissen wir von der Zeit als einer vierten Dimension, wenn auch nur als einer berechenbaren Größe, aber in vielerlei Hinsicht wird verstärkt über die Zeit als einer akathegorialen Größe nachgedacht wie zum Beispiel in der Quantenphysik und denjenigen Bereichen, die bestrebt sind, die Erkenntnisse der Quantenphysik aufzunehmen und umzusetzen, wie es in Temporik-ART auf ganz praktische Weise geschieht.

Was das Geistige angeht, so begegnet es uns ebenfalls in defizienten Formen, die eher an Rückfälle in bereits überwundene Strukturen erinnern als daran, was Gebser mit dem Geistigen meint. Nämlich die Diaphanität, das Durchscheinen des Geistigen als dem ursprünglichen und tragenden Prinzip. In etlichen Bereichen scheint das Geistige jedoch bereits seit langem durch, wobei wieder die Quantenphysik zu nennen ist, aber auch alle Bereiche, in denen es nicht mehr nur um Systeme geht, sondern bereits um Strukturen, so wie in Temporik-ART.

Das integrale Verständnis der Wirklichkeit bedarf einer Bewusstwerdung des Weltganzen als Verwirklichungshierarchie, in der alles mit allem verbunden ist und in ständiger Wechselwirkung miteinander steht. Es bedarf des inneren Gewahrwerdens aller bereits geleisteter Bewusstseinsmutationen und einen grundlegenden Wandel der bisherigen Ichbezogenheit hin zu einem Miteinander und Füreinander, hin zu einem Sich, wie Gebser es nennt.

Um diesen Übergang aus der defizienten rationalen Struktur in die integrale zu leisten, hat uns Jean Gebser das theoretische Modell geliefert, das jeder und jedem von uns den Weg weisen kann, der zu gehen ist, um diese Phase des Übergangs gefahrlos zu überstehen. Es ist die Aufgabe des einzelnen Menschen, diesen Übergang zu leisten. Temporik-ART bietet hierzu die gestalterischen Mittel, die dem tieferen Verständnis dessen, worauf es in diesen Tagen ankommt, Wege in ein Zeit-freies und Ich-freies Leben weisen.

Es ist eines nötig: einmal in seinem Leben wenigstens eines ganz getan zu haben. Ganz. Mit allem Einsatz. Bis zum stärksten Verlust. Bis zur endgültigen Aufgabe des eigenen Ichs. Einmal über sich selbst hinausspringen und an die Himmel rühren. Einmal die Spannung so weit zu treiben, daß es nur noch das Entweder-Oder gibt. Wenn man da hinüber kann, dann kann man durch. (Jean Gebser)