Jan Ilhan Kizilhan: Nachtfahrt der Seele. Von einem, der auszog das Licht zu suchen.

Jan Ilhan Kizilhan: Nachtfahrt der Seele. Von einem, der auszog das Licht zu suchen.

Rezension von Marina Stachowiak

Mit diesem Buch leistet Jan Ilhan Kizilhan mit Alexandra Cavelius einen wichtigen Beitrag in Bezug auf den Terror des IS. Seinen Schreckenstaten und massiven Gewaltakten in Form von Exekutionen, Folterungen und Vergewaltigungen fallen unzählige Menschen zum Opfer oder fliehen davor. Kizilhan nennt die Foltermethoden beim Namen, beschreibt Traumatisierte, sucht als Psychologe nach geeigneten Methoden, den Betroffenen zu helfen, denn der „innere Folterknecht“ beeinflusst die Überlebenden noch lange. In der Therapie geht es darum, die Betroffenen von diesem inneren Folterer zu befreien und sie wieder ins Leben zurück zu holen. Denn gefolterte und mehrfach vergewaltigte Menschen sind weder tot noch lebendig. „Vergewaltigung ist eine Attacke auf unser intimstes Selbst, auf die Würde eines Individuums, das seinen eigenen Körper nicht mehr kontrollieren darf. Das gewalttätige Eindringen in das Innerste eines Menschen nutzen die Täter nicht allein zur Befriedigung ihrer sexuellen Lust; sie wollen Herrschaft über ihr Opfer erlangen, es bezwingen und seine Psyche brechen.“

In seiner Arbeit mit traumatisierten Opfern erleidet Kizilhan im Jahr 2010 ein burnout und macht sich auf die Suche nach seinen eigenen Wurzeln. Er beschreibt den Hintergrund seiner Familie, die als jesidische Kurden in ärmlichen ländlichen Verhältnissen in einem Dorf in Kurdistan im Osten der Türkei in der Nähe der syrisch-irakischen Grenze leben. Seine Eltern gehen nach Deutschland und holen ihre Kinder dann zu sich. Kizilhan ist sechs, als er nach Deutschland kommt. Seine Beschreibungen der ersten Jahre in Deutschland, seine Eindrücke von dem fremden Land und den Menschen haben mich sehr beeindruckt. Ich finde es bewundernswert, wenn Menschen aus einem anderen Land, mit einem anderen kulturellen Hintergrund, einer anderen Sprache und / oder Schrift in einem völlig anderen Land sich zuhause fühlen können. Aber es ist immer wichtig, sich nicht ganz abzutrennen von der eigenen Kultur. Deshalb ist es auch Kizilhan wichtig, sich seiner kulturellen Wurzeln bewusst zu sein.

Vor dem Hintergrund der jesidischen Geschichte, wie Kizilhan sie im Buch beschreibt, wird zudem deutlich, dass die Verfolgungen und die Genozide die das jesidische Volk bis heute erfährt, eine sehr lange Geschichte haben. So schreibt Kizilhan: „Unsere inneren Bilder sind wie tanzende Energien durch die unsichtbaren Fäden eines Netzes mit den Erinnerungen anderer verbunden. Vergangenheit und Gegenwart gehen ineinander über.“

Mit seiner transkulturellen Traumatologie arbeitet Kizilhan seit vielen Jahren mit kriegstraumatisierten Menschen, vor allem mit jesidischen Mädchen und Frauen. Angesichts der traumatischen Folgen, die er sehen und verkraften muss liegt sein Fokus auf der Beendigung des Terrors und der Kriege und er spricht sich für eine Verständigung miteinander aus. Im Hinblick auf die Vergangenheit, die in jedem Menschen präsent ist und seine Gegenwart und Zukunft prägt, im Hinblick also auf unser transgenerationales Erbe schreibt er: „Krieg kostet nicht nur Menschenleben, sondern verwundet auch die Seele unserer noch ungeborenen Kinder und Kindeskinder. Die aus der Angst geborene Radikalität und das Gift von Ideologien spalten die Beziehung zu unserem inneren Selbst und zu den anderen Menschen.“

Schließlich stellt er auch die heute geradezu hochaktuelle Frage, was mit traumatisierten Gesellschaften geschieht: „Und was geschieht mit traumatisierten Gesellschaften wie der der Jesiden nach dem letzten Völkermord? Oder auch der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg? Haben sie ihre kollektiven Traumata wirklich verarbeitet, oder reicht schon ein leichter Anstoß aus der einen oder anderen Richtung aus, um die bösen Geister der Angst wieder zum Leben zu erwecken?“

Dass wir in Deutschland die kollektiven Traumata längst nicht verarbeitet und überwunden haben, zeigt sich in meiner Arbeit mit Menschen ständig. Die meisten persönlichen Probleme und Konflikte, ja Krankheiten, die Menschen haben, können auf die Weltkriege zurückgeführt werden. Entlastung tritt dann ein, wenn der Krieg im eigenen Bewusstsein beendet ist. Entlastung tritt dann ein, wenn Kinder geliebt, aufgehoben und gewertschätzt werden. Dazu braucht es Eltern, die innerlich frei sind von ihren eigenen Traumatisierungen und ihrem transgenerationalen Erbe und wirklich verantwortungsvoll und friedfertig sein können. Wer wirklich friedfertig in seinem Inneren ist, braucht sich vor dem „Gift von Ideologien“ nicht zu fürchten.