Getrennt von uns selbst – Sexuelle Gewalterfahrungen in der Kindheit. Einsichten und Heilung

getrenntGetrennt von uns selbst. Sexuelle Gewalterfahrungen in der Kindheit. Einsichten und Heilung,

erschienen unter dem ehemaligen Namen Pilgram, Marina

Focus Verlag Gießen 2000, 2002 ISBN 3-88349-483-6

Paperback 238 Seiten

18,- Euro

Heilung bedeutet, den Weg der Gewalt zu verlassen und damit den Kreislauf von Gewalt für immer zu beenden. Es bedeutet, sich der eigenen Größe bewusst zu werden und die eigenen Kraftquellen in sich zu entdecken und zu entfalten. Es bedeutet, sich auf den Weg zu sich selbst zu machen und sich damit die größte Chance für ein erfülltes und reiches Leben zu geben.

nachfolgend ein Textauszug Buch S. 9-14

Vorwort zur zweiten Auflage

Die Notwendigkeit, sich den weiblichen Kräften zu öffnen und sie mit aller Eigenverantwortlichkeit in die Welt zu tragen, ist heute wichtiger denn je. Die Überbewertung männlicher Wertmaßstäbe und Normierungen hat dazu geführt, dass wir uns heute in einer weltweiten Krise befinden, die so tiefgreifend und vielschichtig ist, dass sie in allen Bereichen unseres Lebens
präsent ist.

(Die Bezeichnungen weiblich und männlich bedürfen an dieser Stelle einer Erläuterung: Sie beziehen sich nicht im biologistischen Sinne auf die Geschlechterproblematik. Das Verhältnis zwischen Frauen und Männern verstehe ich lediglich als eine der Auswirkungen jener energetischen Prozesse, die sich seit mehreren Jahrtausenden im Bewusstsein des abendländischen Menschen vollziehen und die zur Ausbildung patriarchaler Herrschaftsstrukturen geführt haben. In dem Sinne ist auch die patriarchale Struktur lediglich eine Auswirkung, nicht aber die eigentliche Ursache aller heute erkennbaren Konsequenzen dieser Bewusstseinsstruktur.
Die Problematik der beiden Begriffe weiblich und männlich ergibt sich durch die mit ihnen verbundenen überkommenen Wertekategorien, welche dem Weiblichen diejenigen Eigenschaften zubilligen, die für minder wert und negativ gehalten werden und umgekehrt den männlichen Eigenschaften einen grundlegenden Vorzug einräumen. Weiblich und männlich stehen hier vielmehr für energetische Begebenheiten und Zustände, anhand derer Harmonien und Disharmonien erkennbar werden. Sie stehen für Yin und Yang, jene so in China bezeichneten unterschiedlichen energetischen Zustände, die in ihrem
Zusammenwirken die Lebenskraft (Chi) bedingen. In jedem Menschen sind Weibliches (Yin) und Männliches (Yang) gleichermaßen vorhanden. Ein harmonischer Zustand ist dann, wenn beide Energieformen im Gleichgewicht sind. Dann, wenn sie miteinander harmonieren, sich gegenseitig ergänzen und durchdringen, ist ein Zustand guter Gesundheit
und höchsten Wohlbefindens erreicht.)

Gleichzeitig neben den verheerenden Auswirkungen dieser Krise wird eine Veränderung in der Denk- und Handlungsweise der Menschen zunehmend spürbar. Es treten vermehrt Kräfte in Erscheinung, die das überkommene System männlich dominierten Denkens und Handelns durchbrechen und zu einem ganzheitlichen Verständnis des Lebens auf der Erde überleiten. Die Voraussetzung hierfür ist eine veränderte Wahrnehmungsweise, anhand der es möglich wird, Einzelphänomene in einem größeren Zusammenhang zu erkennen.
Der Ausbruch aus dem überkommenen Denken, welches von Fortschrittsglauben, rationaler Überbewertung und dem Verhaftetsein in einseitigen und sektorierenden Perspektiven geprägt ist, wird bereits von vielen vollzogen. Damit verbunden ist die Abkehr von fremdbestimmten Wertvorstellungen und überkommenen Denk- und Handlungsgewohnheiten mit dem Ziel zu einem authentischen, lebensbezogenen und ganzheitlich ausgerichteten Wahrnehmen und Handeln zu kommen, das neben den mentalen auch die vitalen, körperlichen, emotionalen und geistigen Kräfte unseres Daseins bewusst ins Leben integriert. Durch eine derart veränderte Sichtweise treten ethische Werte von Menschlichkeit und Gemeinschaft
anstelle moralischer Urteile, Kooperation anstelle von Konkurrenz und Machtkampf in den Vordergrund. Diese Veränderungen beschreiben den gegenwärtigen Wandel unseres Bewusstseins, der sich für diejenigen, die ihn vollziehen, heilsam auswirkt.
Es ist ein Wandel, der sich auf allen Ebenen unseres Lebens bemerkbar macht. Er greift ein in intellektuelle, emotionale, ethische und spirituelle Dimensionen. Was sich bislang abzeichnet, ist die Tendenz, sich kritisch mit den bislang noch wirksamen männlich dominanten Wertekategorien des überkommenen Bewusstseins auseinander zusetzen und zwar in einer Art und Weise, die das eigene Selbst mit einbezieht. Diese Vorgehensweise beinhaltet die Wahrnehmung eigener individueller Strukturen und ihre Analyse, besonders im Hinblick auf überkommene Muster, und es beinhaltet die Wandlung dieser Strukturen.
Für Frauen mit sexuellen Gewalterfahrungen steht diese Auseinandersetzung in einer sehr konkreten und intensiven Art und Weise an. Denn die sexuelle Gewalt ist eine der sichtbarsten und zerstörerischsten Auswirkungen der überkommenen Struktur. Sexuelle Gewalt ist die deutlichste Form patriarchaler Gewalt, da sich in ihr die stringente Ablehnung und Abspaltung des Weiblichen in einer sehr konkreten Weise manifestiert.
Sexuelle Gewalt ist die projektive Manifestation der individuellen und kollektiven energetischen Situation unserer gegenwärtigen Zeit. Für Frauen, die sexuelle Gewalt an Leib und Seele erfahren haben, sind deshalb die Aussichten, heilsame Lebenskonzepte für sich selbst, aber auch ein ganzheitliches Verständnis für den momentanen energetischen Wechsel in ein erweitertes Bewusstsein zu entwickeln, meines Erachtens besonders gut.
Der Zerfall der patriarchalen Struktur, der sich momentan überall abzeichnet, ist die Voraussetzung für den Einstieg in dieses erweiterte Bewusstsein. Eine derjenigen Kräfte, die verstärkt dazu beigetragen haben, ein Bewusstsein für die Einseitigkeit der patriarchalen Struktur zu entwickeln und auf ihre Gefahren hinzuweisen, ist die Frauenbewegung.
In den achtziger Jahren verfolgte sie hauptsächlich den Kampf gegen die Auswirkungen des Patriarchats, unter der weibliche Menschen seit mehrerenJahrtausenden unterdrückt, ausgebeutet und fremdbestimmt sind. Es ist ihr gelungen, das Unzulängliche, Ungute und Zerstörerische dieser Struktur aufzuzeigen und ihre Lehren und Wertmaßstäbe, ihre Moral und
das als Naturgesetz konstatierte Geschlechterverhältnis, in dem die Frau – oder das Weibliche an sich – als minderwertig beschrieben wird, zu verwerfen.
Insbesondere das Ausmaß an sexueller Gewalt gegen Mädchen und Frauen wurde zum Anlass, die lange unterdrückten Aggressionen von Frauen zum Ausdruck zu bringen und nach Strategien zur Veränderung patriarchaler Machtstrukturen zu suchen. Der aus dem ständig wachsenden Leidensdruck der Frauen resultierende Zorn war eine der sprengenden Kräfte,
welche die Fundamente des Patriarchats ins Wanken gebracht hat. Die Errungenschaften der Frauenbewegung sind heute nicht mehr wegzudenken.
Angefangen von Beratungsstellen für Opfer von politischer und sexueller Gewalt, Schutzhäusern und Aufenthaltsorten für Mädchen und Frauen, die durch Gewalt und Ausbeutung bedroht sind, über Beratungsstellen zu gynäkologischen Fragen, bis hin zu Quotenregelung und gesetzlichen Änderungen zugunsten von Frauen. Wenngleich diese Veränderungen
noch lange nicht den nötigen Standart erreicht haben und in vielerlei Hinsicht mittlerweile wieder rückläufig sind, so haben sie doch das allgemeine Bewusstsein für die Geschlechterproblematik verschärft und Frauen stehen heute mit weitaus mehr Selbstbewusstsein im Leben als noch vor 20 Jahren.
Die patriarchale Struktur ist damit keineswegs überwunden. Sie hat sich invielen Bereichen sogar noch erheblich verschärft. ( Beispiele dafür sind etwa die zunehmende Ausbeutung von Mädchen und Frauen im Zusammenhang mit dem internationalen organisierten Verbrechen, die Zunahme von Prostitution und sexueller Ausbeutung, sowie das vermehrte Festhalten an frauenfeindlichen Traditionen, die sich in vielen Ländern der Welt als Abgrenzung gegen die westliche Überfremdung abzeichnet – wie etwa die sexuellen Verstümmelungspraktiken an Mädchen und Frauen in weiten Teilen Afrikas oder die Festigung muslimischer Tradition, die für Frauen das Tragen des Tschadors vorsieht.)

Denn angesichts ihrer immer deutlicher werdenden Einseitigkeit und Maßlosigkeit und der Gefahren, die daraus für das Leben auf der Erde entstehen, und angesichts des immer deutlicher werdenden Wachsens einer neuen erweiterten
Bewusstseinsstruktur der Menschen muss sie, um sich selbst gerecht zu werden, ihre letzten Reserven und Potentiale aufbieten, um sich am Leben zu erhalten. Sie kämpft um den Erhalt jener Bedingungen, unter denen „alles machbar“ scheint, unter denen der Mensch als „Krone der Schöpfung“ alles unter Kontrolle zu haben glaubt. Eine Folge dieses stringenten Festhaltens an der überkommenen Struktur ist die Verschärfung ihrer Mittel und Strategien. Jedoch wirken sich diese nicht
stabilisierend aus, sondern sind als Anzeichen des bereits begonnenen Zerfalls zu verstehen.
Entgegen der Ablehnung und dem Widerstand gesellschaftlicher Institutionen, überkommener Wahrnehmungsgewohnheiten und Wertekategorien hat sich die Frauenbewegung der achtziger Jahre von den ausbrechenden emotionalen Energien der Frauen leiten lassen und rief damit in der Öffentlichkeit eine große Betroffenheit hervor. Dies war nötig um das Ausmaß sexueller Gewalt in der Gesellschaft aufzuzeigen und ein Bewusstsein dafür zu schaffen. Alte Tabus wurden gebrochen, neue traten auf den Plan. (So herrschte etwa Anfang der achtziger Jahre die Meinung, Frauen könnten von sich aus nicht zu Täterinnen werden und wenn doch, so seien sie entweder von Männern dazu gezwungen worden oder litten selbst an den Folgen eigener sexueller Gewalterlebnisse. Diese Meinung speiste sich nicht allein durch die große Masse von bekannt werdenden weiblichen Opfern, die durch Männer sexuelle Gewalt erlitten hatten, sondern auch durch die Annahme einer potentiellen weiblichen Opferschaft und männlichen Täterschaft. Auch die Tatsache,
dass die körperliche Kindesmisshandlung ohne sexuellen Hintergrund hauptsächlich von Frauen ausgeübt wird, konnte an dieser Annahme nichts ändern. Bedingt durch dieses Tabu wurden Fälle, in denen Frauen sexuelle Gewalt ausgeübt hatten, erst sehr zögerlich bekannt.
Beispiele wie dieses verweisen deutlich auf die Notwendigkeit, sich tiefer mit der Thematik auseinander zusetzen; sie verweisen auch auf die Notwendigkeit, die Strukturen, aus denen sich die Dynamik von Opferschaft und Täterschaft bilden, zu erfassen.

Die Ausrichtung der hervorbrechenden Energien der Frauen verlief in zwei Richtungen, nach Innen und nach Außen. Dem nach Außen drängenden Aktionismus und dem Willen, die bestehende Ordnung zu verändern, stand die Auseinandersetzung mit dem eigenen Inneren gegenüber, welches bereits klar auch in seiner Beziehung zu gesellschaftlichen Strukturen gesehen und erfasst wurde. Entsprechend der jeweiligen Ausrichtung nach Innen oder nach Außen wechselte die Tendenz, sich urückzuziehen und abzuschotten oder öffentlich zu agieren und Strategien zur allgemeinen Bewältigung und Veränderung der Situation zu erarbeiten. Diese Vorgehensweise war noch weitgehend in den überkommenen Mustern rationaler Mentalität verhaftet, der es zu eigen ist, durch Konkurrenz und Kampf Veränderungen zu bewirken und in diesem Sinne nicht
gänzlichend, sondern zerteilend und spaltend zu wirken. Die Wende zu einem neuen, erweiterten Ansatz trat jedoch in dem Bemühen zutage, in die Analyse gesellschaftlicher Bedingungen und Erscheinungsweisen das eigene Selbst mit einzubeziehen. (Einen Leitfaden zur feministischen Bildungsarbeit im Kontext eines Selbsterfahrungs- und Selbsterkenntnisprozesses mit dem Ziel, dualistische Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Interpretationsweisen zu überwinden, entwickelt Silvia Kolk in ihrem Buch: Von der Selbsterfahrung über die Selbsterkenntnis zur Einsicht –Ein Befreiungsweg im Kontext feministischer Bildungsarbeit. Bielefeld 1994)

Gegenwärtig werden die tieferen Schichten der Geschlechterproblematik immer deutlicher. Es geht nicht mehr allein um die Beseitigung patriarchaler Herrschaftsstrukturen nach konventionellen Mitteln, die – wenn sie nicht in ihrer sie konstituierenden Struktur erkannt werden – die Dynamik von Opferschaft und Täterschaft wiederholen und in dem unsäglichen Kampf zwischen Frauen und Männern stecken bleiben, der im Kleinen wie im Großen stets nur die Oberfläche dessen berührt, was unser aller Dilemma ist. Gesellschaftliche Analysen und politische Interventionen, sind nach wie vor wichtig und notwendig. Worauf es aber vor allem ankommt, ist die Wahrnehmung derjenigen Muster, die der geistigen
Struktur des Patriarchalen zugrunde liegen und deren Veränderung.
Die eigenen, verinnerlichten Strukturen männlich dominanter Kräfte, welche immer ein Äquivalent zu den kollektiven Strukturen darstellen, zu erkennen und sie nachhaltig zu verändern, gehört zur Aufgabe der Stunde. Was wir empfinden, fühlen und denken, steht immer in Beziehung zu dem, was wir erlebt haben und erleben, was also von außen an uns heran
getragen wird, und es ist stets mit unseren Handlungen auf das Engste verbunden. Denn wir selbst sind ein Teil des Systems, in dem wir leben und wir stellen deshalb als Teil des Gesamten auch immer das Ganze dar. So wie in jeder einzelnen Zelle unseres Körpers jeweils das gesamte Erbgut enthalten ist, ist auch in jedem einzelnen Menschen die Gesamtheit enthalten. Getrennt von uns selbst heißt deshalb auch immer getrennt vom Ganzen zu sein. Diese Wahrnehmungsweise ist neu, da sich in ihr das Zusammenspiel vieler Ebenen manifestiert. Die Annäherung an diese neue Betrachtungsweise erkennt Ereignisse nicht mehr als Einzelphänomene in einem zeitlich und räumlich begrenzten Kontinuum, sondern als wechselwirksame Verbindungen, in denen sich die einzelnen Ereignisse gegenseitig durchdringen. (Ein Beispiel im konkreten Missbrauchsumfeld ist die Tatsache, dass die Opferstruktur bei Betroffenen nicht unbedingt durch die zeitliche und räumliche Anwesenheit der Täter zum Ausdruck kommt, sondern dass sie ein grundlegendes Muster ist, welches sich in allen
Lebensbereichen der Betroffenen nachhaltig schädigend auswirkt.)

Ich versuche in diesem Buch die Ansätze der neuen Denk- und Wahrnehmungsweise betroffenen Frauen nahe zu bringen, weil ich davon überzeugt bin, dass Frauen, die schwere Traumata erlitten haben, von diesen nur dann völlig genesen können, wenn sie sich einer erweiterten Wahrnehmung ihrer Wirklichkeit öffnen. Hierzu gehört es, sich mit den dem Trauma
zugrundeliegenden Mustern auseinander zusetzen und sich über das persönliche Dilemma hinaus auch gleichzeitig die interaktionären Muster zu anderen Menschen und zur Welt zu erschließen. Sexuelle Gewalt erfüllt eine ganz bestimmte Funktion, sie verstehbar zu machen, und zwar aus dem Blickwinkel der Endzeit des Patriarchats, ist mein Wunsch.
Die Erfahrung, wie Körper, Seele und Geist zusammenwirken, dass sie ein energetisches System bilden, welches sich uns mit zunehmender Bewusstheit immer mehr offenbart, stellt deshalb den notwendigen Hintergrund im Heilungsgeschehen dar. Der Weg der Heilung führt über die Erkenntnis der eigenen inneren Muster, die sich aufgrund der Verinnerlichung männlich-
dominanter Lebensprinzipien in uns manifestiert haben und die die Unterdrückung und Abspaltung weiblicher Kräfte in uns bewirken.
Heilung ist die Überwindung dieser Muster und die Integration der weiblichen Wesenskräfte in die Gesamtpersönlichkeit. Heilung ist, wenn Weibliches und Männliches, Yin und Yang, gleichzeitig neben- und miteinander wirken. Heilung ist heil werden, ganz werden; es ist die Überwindung des Getrenntseins von uns selbst und dem ganzen Kosmos.